Proteste der afrikanischen Erntearbeiter in Kalabrien
ROM, 12. Januar 2010 (ZENIT.org).- Sonntag Morgen rollten Schaufelbagger über das Gelände der ehemaligen Fabrik und schoben die Reste einer geräumten „Siedlung“ zu großen Haufen auf dem schlammigen Boden zusammen, bereit für den Abtransport auf die kommunale Mülldeponie: kaputte Zelte, Plastikplanen, Pappkartons, Wellblech und Campingkocher. Material, das den verzweifelten Versuch bezeugt, Zuflucht vor Regen und Kälte der Wintermonate zu suchen.
Es ist schwer vorstellbar, dass hier noch vor ein paar Tagen mindestens 400 Menschen in einer selbst errichteten Favela ohne Wasser und Strom hausten. Einige Arbeiter hatten sich ihr Nachtlager sogar im Inneren eines Silo aufgeschlagen, in den man über einen trichterförmigen Zugang kriechen musste.
Die Fotos vom gewaltsamen Aufstand der farbigen Erntearbeiter in Rosarno ging seit Freitag durch die gesamte europäische Presse. Rosarno ist ein 16.000 Seelenstädtchen im südlichen Kalabrien, dem vergessenen Hinterhof Italiens. Von dem Wirtschaftsboom der 60 er und 70 er Jahre übergangen, ist die an Industrie und Infrastruktur unterentwickelte Region vielmehr als Anbaugebiet für Orangen und Gemüse bekannt — und wegen der ausländischen Wanderarbeiter, die mittlerweile ganzjährig und vor allem zu den Erntezeiten die Gegend bevölkern. Immerhin hausen in der Ortsgemeinde schätzungsweise 5000 Immigranten. Die genaue Zahl kennt keiner, denn die Arbeiter wurden von keiner Behörde erfasst. Es sollen sich zahlreiche clandestini darunter befinden, Ausländer ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung.
Die italienische Caritas, die jährlich aktuelle Studien zu Immigration veröffentlicht, meint, dass die meisten „Illegalen“ in Italien ihr Aufenthaltsrecht zusammen mit einem Arbeitsvertrag verloren hätten. Es gäbe wohl Arbeit in Italien, doch seien reguläre Verträge eine Seltenheit geworden. Tagelöhner und Wanderarbeiter sind gefragt. Aber das ist ein anderes Kapitel.
Bis Anfang der 90er Jahre verdienten die Einheimischen von Rosarno ihren Lebensunterhalt selbst mit Feldarbeit. Dann kamen die billigeren Kräfte aus den ehemaligen Ostblockstaaten. Heute hingegen haben deren Platz vornehmlich Schwarzafrikaner eingenommen, die in der sozialen Skala der Immigranten auf der untersten Sprosse stehen. Diese sind bereit, für 15 bis 20 Euro täglich 12 bis 14 Stunden auf den Orangenplantagen und Gemüsefeldern zu rackern. Nur die Fleißigsten, die im Akkord arbeiten, dürfen am nächsten Tag wiederkommen. Die Selektion der Arbeiter wird von einem „Vorarbeiter“ durchgeführt, der eine Provision von jedem einkassiert. Die Besitzer der teils mit EU-Geldern subventionierten Großplantagen haben jedenfalls keine moralischen Bedenken. Sie betrachten sich als wohltätige Arbeitgeber in einer Gegend, die sonst kaum Arbeit bietet.
Der vorprogrammierte Konflikt entbrannte nicht etwa mit den Behörden, die jahrelang einfach die Augen verschlossen, sondern mit der einheimischen Bevölkerung. Von einer gescheiterten Integrationspolitik zu sprechen, ist sicherlich nicht korrekt, denn eine solche Anstrengung ist nicht einmal in Ansätzen im armen Süden Italiens tastbar. Es handelt sich vielmehr um die Eskalation von sozialen Spannungen, die durch Massenmigration und extreme soziale und kulturelle Gegensätze ausgelöst wurden.
Berührungspunkte zwischen den Bürgern und den Immigranten gab es kaum. Das Fabrikgelände außerhalb der Ortschaft wurde von den Einheimischen allgemein gemieden. Das galt auch für die in Elendslager verwandelten aufgegebenen Bauernhäuser und Scheunen im dünn besiedelten Umland. Für die katastrophalen Wohn- und Arbeitsbedingen mag sich bisher keiner recht interessiert haben. Schon gar nicht die Kommune und Polizei, wie sich heute der Rest der Nation empört. Immerhin, verteidigt sich die Stadtregierung, hätte man zwei Toilettencontainer auf dem Fabrikgelände beigesteuert: jeweils eine Toilette für die Notdurft von 200 Mann.
Die Pflücker treten weniger in dem Städtchen als auf den Landstraßen in Erscheinung. Dann, wenn sie sich in Gruppen bei Morgengrauen auf den Weg zu den Obstplantagen und Gemüsefelder machen und abends bei ihrer Heimkehr. Genau auf einem dieser Straßen kam es vergangenen Donnerstagabend zum Ausbruch von schon lange angestauten Spannungen. Zwei Afrikaner wurden von Unbekannten aus einem vorbeifahrenden Auto angeschossen und verletzt. Darauf zogen 150 Immigranten durch die Innenstadt, zündeten Autos und Mülltonnen an und zertrümmerten ein paar Geschäftsvitrinen. Auf Transparenten prangerten sie Rassismus und Ausbeutung an. Dutzende von Einwohnern holten mit Knüppeln, Eisenstangen und Luftgewehren bewaffnet in einem Akt von Selbstjustiz zum Gegenschlag aus. „Man wollte nur persönlich für Sicherheit der Stadt sorgen.“ Die Bilanz der Straßenschlacht: 67 Verletzte, darunter ein halbes Dutzend schwer verletzte Afrikaner, – die sich auf 31 Immigranten, 17 Einwohnern sowie 19 Polizisten verteilen.
Die Behörden versuchen mit 200 entsandten Polizisten und Militärs die öffentliche Ordnung wieder herzustellen. Es hat seitdem keine Demonstrationen von Seiten der Ausländer gegeben. Aber die Gewaltstimmung hält offenbar weiter an. Gestern sind zwei weitere Afrikaner von Anwohnern überfallen und krankenhausreif geschlagen worden. Inzwischen haben rund 1200 Immigranten den Ort verlassen. Die Hälfte davon wurden in verschiedene Auffangzentren in Süditalien gebracht. Die restlichen sind aus Furcht vor weiteren Übergriffen mit ihrer armseligen Habe geflohen.
Der Vorfall hat eine heftige Debatte über Ausländerfeindlichkeit in Italien ausgelöst. Der Ausländeranteil macht mit 4,23 Millionen etwa 7 Prozent (Istat Januar 2010) der Gesamtbevölkerung aus, damit liegt Italien unter dem europäischen Mittel. Ein wichtiger Aspekt ist sicherlich, dass Italien erst seit etwa zwei Jahrzehnten mit dem Phänomen konfrontiert ist, wobei sich seit dem Jahr 2000 die Zahl der Ausländer verdoppelt hat. Die Realisierung einer vernünftige Integrationspolitik vor allem im reichen Norden des Landes, wo die meisten Immigranten leben und in der Industrie, Gastronomie und in Haushalten tätig sind, steckt noch in den Kinderschuhen.
Caritas, Menschenrechtsorganisationen und die Mitte-Links-Opposition werfen den Bewohnern Rosarnos Rassismus vor. Diese sei Frucht der von der Lega-Partei verbreitete ausländerfeindlichen Stimmung. In der Tat scheint die Ausländerpolitik von Ministerpräsident Berlusconi ganz dem xenophoben Koalitionspartner anvertraut.
In letzter Zeit hat die Kirche mehr als einmal offen Stellung zu der Ausländerpolitik der Regierung bezogen. Erzbischof von Mailand, Kardinal Dionigi Tettamanzi, hatte in seiner Homilie zum Festtag des Stadtpatrons die mangelnde Bereitschaft des Stadtrats für eine menschliche Integrationspolitik kritisiert und die Gläubigen aufgerufen, ihre Herzen gegenüber den Fremden zu öffnen. Darauf wurde der Kardinal von der Lega als Imam beschimpft. Dieselbe Partei hatte zuvor in einem Ort bei Brescia unter dem zynischen Motto „white christmas“ zu einer „Ausländersäuberungsaktion“ aufgerufen. Die Aktion richtete sich vor allem gegen Farbige. Auf die Behandlung und unbegründete Abweisung von Flüchtlingen an den süditalienischen Küsten wies Erzbischof von Agrigent, Francesco Montenegro, mit einer Aufsehen erregenden Weihnachtskrippe im Dom hin: Es fehlten die Heiligen Drei Könige, die nicht zum Christuskind kommen konnten, weil sie an der „Grenze festgehalten wurden“.
Papst Benedikt XVI. bekannte am Sonntag, die Ereignisse „hätten ihn ganz besonders bewegt“. Migranten müssten ungeachtet ihrer andersartigen Kultur und Tradition als Menschen geachtet werden, forderte er nach dem Angelusgebet. Gewalt könne niemals ein Weg zur Lösung von Schwierigkeiten sein (ZENIT berichtete). „Wir haben widerliche Vorfälle von Rassismus erlebt, in denen sich stummer und wilder Haß gegen Menschen eine anderen Hautfarbe ausgelebt hat. Es erinnert an Zeiten, die wir eigentlich für überwunden hielten“, schrieb gestern in der italienischen Ausgabe der Tageszeitung des Vatikans, dem L´Osservatore Romano, die Journalistin Giulia Galeoti unter der Headline “Italien und der Rassismus,” über die Ereignisse im süditalienischen Rosarno.
Das Flüchtlingskommissariat der UN (UNHCR) hat schon mehrfach Fälle von Nichteinhaltung der europäischen Richtlinien bei den Asylantragsverfahren in Italien angeprangert und die hygienischen und unmenschlichen Zustände der Auffanglager kritisiert.
Innenminister Roberto Maroni sieht das Problem in erster Linie in der illegalen Einwanderung, die Nährstoff für Sozialkonflikte und Kriminalität sei. Die Regierung kündigte nun Maßnahmen gegen diese an. Auch die ’Ndrangheta, die kalabresische Mafia, will man bekämpfen, die hinter der Ausbeutung der Erntearbeiter stehen soll. Die Polizei vermutet, dass das Attentat am Donnerstag eine Strafaktion der die Region kontrollierenden Clans war. Es sollte die Immigranten einschüchtern, die sich weigerten, die übliche „Aufenthaltsteuer“ von 5 Euro täglich zu zahlen.
Bisher scheint allerdings der harte Arm des Gesetzes nur die Einwanderer zu treffen: Festnahmen wegen Randale und Sachbeschädigung sowie Ausweisungen von Pflückern ohne Aufenthaltsgenehmigung. Alle abusiven Wohnstätten und Camps werden in diesen Tagen geräumt. Leider sind bislang keine konkreten Maßnahmen gegen die Arbeitgeber oder gewalttätige Einheimische bekannt geworden. Seit langem bekannt ist jedoch, dass die den Clans angehörenden Großgrundbesitzer von der Misere und Rechtlosigkeit der (illegalen) Einwanderer schamlos profitieren. Unverständlich bleibt, warum der Staat bisher tatenlos zugesehen hat.
Rosarno stellt kein Einzelfall dar. Die italienische Gewerkschaft Cgil schätzt, dass etwa 50.000 Einwanderer in Süditalien von Großgrundbesitzern wie moderne Sklaven gehalten werden und in ähnlichen desolaten Verhältnissen leben. Man kann nur hoffen, dass der europaweite Widerhall des Vorfalls die Regierung zu Kontrollen auf den Feldern und rechtlichen Schritten gegen die kriminelle Ausbeutung von Arbeitskräfte zwingt.