Kritische Stimmen in der Kirche zum italienischen „Maulkorb-Erlass“

ROM, 2. Juli 2010 (ZENIT.org).- Auch von der Kirche erklingen kritische Stimmen zum italienischen „Maulkorb-Erlass“. Eine neues Gesetz der Mitte-Rechts-Regierung soll Abhörmaßnahmen einschränken und die Publikation von mitgeschnittenen Telefonaten verbieten.

Prof. Antonio Maria Baggio, der politische Philosophie an der Universität der Sophia von Loppiano lehrt, äußerte sich jüngst in einem Interview mit Radio Vatikan zu dem Konflikt zwischen Recht auf Privatsphäre und dem Recht auf Information. „Aus dem Blickwinkel der katholischen Soziallehre gibt es nicht nur eine Informationspflicht, sondern auch ein Recht auf Information“. Die Kirche hätte mit Pius XII. nach den Erfahrungen eines totalitären Regimes eine Kehrtwendung vollzogen und die Demokratie begrüßt. Bereits 1944 definierte der Papst in einer Radioansprache die neue wachsame und kritische Haltung des einzelnen Bürgers gegenüber dem Staat als wesentliches Element für die Herausbildung einer demokratischen Gesellschaft. Das Recht der freien Religionsausübung sei an die Freiheit des einzelnen Menschen gebunden und könne nur in einem Staat gewährleistet werden, der kritische Fragen zulässt.“

Vor diesem Hintergrund bezeichnet Prof. Baggio das angekündigte Abhörgesetz der Regierung als Widerspruch zu den demokratischen Werten. Das Gesetz würde den Ermittlungsspielraum der Staatsanwaltschaft beeinträchtigen und die Informationspflicht der Presse stark beschneiden.

Das Recht auf Privatsphäre steht laut Baggio bei Personen, die ein öffentliches Amt bekleiden, hinter dem Wohl der Demokratie und seinen Kontrollfunktionen. Die Person müsse nicht nur eine beträchtliche Einschränkung seiner Privatsphäre hinnehmen, sondern sollte auch ein Beispiel an Bürgertugend und Transparenz sein.

Der bereits in der ersten Kammer verabschiedete Gesetzentwurf begrenzt Telefonabhörung auf 75 Tage. Nur wenn der Staatsanwalt stichhaltige Beweise für eine kriminelle Handlung oder deren Vorbereitung vorliegen kann, ist es möglich, Verlängerungen im Drei-Tages-Rhythmus zu beantragen, die von einem komplizierten Verfahren genehmigt werden müssen. Der italienische Staatsanwaltverband ANM befürchtet, dass mit der zeitlichen Einschränkung ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung der Kriminalität wegfallen wird. Da Ermittlungen gegen die Mafia davon ausgenommen sind, trifft das Gesetz in erster Linie Exponenten aus Politik und Wirtschaft, aber auch Angestellte des öffentlichen Dienstes. In Italien sind seit Anfang der neunziger Jahre zahlreiche Fälle von Korruption und Amtsmissbrauch im Staatsapparat gerade mithilfe von monatelangen Abhörungen entlarvt worden. In den letzten Wochen haben sich Skandale in der Regierungspartei gehäuft.

Als Beweggrund der Maßnahmen führt die Berlusconi-Regierung Missbrauch der Justiz von der bisherigen freien Möglichkeit Telefongespräche aufzuzeichnen. Umstritten ist die Zahl der Personen, deren Telekommunikation zur Zeit von der Polizei überwacht wird. Aus den 119.000 von der Staatsanwaltschaft für das Jahr 2009 angegebenen überwachten Telefonnummern werden allgemein zwischen 26.000 und 40.000 Personen errechnet, gegen die ermittelt wird. In der Tat liegt damit Italien im mitteleuropäischen Vergleich ganz vorne. Allerdings ist in keiner der europäischen Industrienationen Korruption so verbreitet wie in Italien.

Der Gesetzentwurf sieht außerdem hohe Strafen für Verleger und Journalisten bei Publikation von Abhörprotokollen und Zitierung aus Ermittlungsakten vor. Die Regierungspartei will damit in Zukunft die Privatsphäre der Personen schützen, gegen die ein Ermittlungsverfahren angestrengt ist. Die Presse hatte in den letzten Monaten neben den Straftaten auch Details aus dem Intimleben von Regierungsmitgliedern in die Schlagzeilen gebracht, die aus Telefonaufzeichnungen stammen. Premier Berlusconi bezeichnet sich selbst als Opfer einer Medienkampagne, seitdem mit der Veröffentlichung von mitgeschnittenen Gesprächen aus Ermittlungsakten von Dritten auch sein außereheliches Sexualleben ans Tageslicht gezerrt wurde. In einigen Fällen waren die Aufzeichnungen auf unbekanntem illegalem Weg in die Hände von Journalisten gelangt.

Das Gesetz soll noch vor der Sommerpause am 29. Juli in der Abgeordnetenkammer verabschiedet werden. Seit Wochen protestieren Opposition, Journalisten und der Staatsanwaltverband gegen seine Verabschiedung. Während der nationale Journalistenverband für den 9. Juli zu einem landesweiten Nachrichtenboykott ausgerufen hat, plant die TV-Gruppe Sky eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einzureichen. Gestern wurde in vielen Städten Italiens von Richtern, Staatsanwälten Bürgern auf der Straße demonstriert.