Papst Benedikt XVI. verleiht anlässlich seines englischen Staatsbesuchs vier Wandteppiche Raphaels aus der Sixtina an das Victoria and Albert Museum
ROM, 6. September 2010 (ZENIT.org).- Benedikt XVI. reist nicht ohne Gastgeschenke nach Großbritannien. Sie wurden gerade in diesen Tagen für die Fahrt an die Themse aufwendig verpackt. Keine Kleinigkeit angesichts ihres Alters und ihres Formats: Es handelt sich nämlich um die bis zu 20 qm großen Wandteppiche Raphaels aus der Sixtinischen Kapelle.
Diese vatikanischen Meisterwerke der Hochrenaissance sollen nun anlässlich des Staatsbesuchs des Pontifex vom 8. September bis zum 17. Oktober im königlichen Victoria and Albert Museum als Leihgaben ausgestellt werden. Ein einzigartiges Geschenk des Heiligen Vaters, denn in dem Museum befinden sich die berühmten Kartons von Raphael, die gemalten Vorlagen, nach denen die Wandgehänge aus Wolle und Seide gewirkt wurden. Zum ersten Mal werden die Entwürfe und die textile Bildserie nebeneinander zu bewundern sein. „Selbst Raphael hat eine Gegenüberstellung beider Werkserien nie erleben dürfen“, erinnert der Direktor der Vatikanischen Museen, Antonio Paolucci. Entwürfe und Teppiche sind in verschiedenen Orten hergestellt worden und ihr Schicksal wollte, dass sie getrennte Wege gingen.
Die an den Renaissancehöfen aufkeimende Mode, Palastwände und Kirchen mit vielfarbiger Tapisserie zu verzieren, hat in Nordfrankreich und Flandern florierende Zentren der Teppichwirkerei entstehen lassen. Diese nahmen Aufträge aus ganz Europa an. Für die Umsetzung der Entwürfe Raphaels wurde die damals renommierteste Manufaktur des flämischen Künstlers Pieter van Aelst in Brüssel gewählt. Ein teures Vergnügen, kosteten doch die zehn Arazzi genannten Wandbehänge 15.000 Golddukaten, das Vierfache der Summe, die Michelangelo für sein Deckenfresko in der Sixtina erhalten hat. Die fertigen Produkte wurden an den Vatikan gesandt, während die begehrten Kartons zunächst für weitere Reproduktionen vor Ort blieben, um schließlich 1623 von der englischen Krone ersteigert zu werden. Seit 1865 sind die Kartons als Hauptattraktion des Victoria and Albert Museum zu bewundern.
Es war der Medici-Papst Leo X., der 1515, also knapp drei Jahre nach dem Welterschaffungsfresko von Michelangelo, die Serie mit der Lebensgeschichte der Apostelfürsten Petrus und Paulus bei dem Meister aus Urbino in Auftrag gab. Er wollte, dass auch sein Name neben der seiner Vorgänger Sixtus IV. und Julius II. in die Geschichte der berühmtesten Kapelle im Vatikanischen Palast einging. Ursprünglich waren wohl sechzehn Teppiche geplant. Realisiert wurden jedoch vermutlich wegen des vorzeitigen Todes des Künstlers (1520) nur zehn Exemplare. Die ersten sieben erreichten Rom 1519 und wurden an Weihnachten in der Sixtina ausgestellt.
Die schweren Wandbehänge schmückte ursprünglich die Sockelzone der Kapelle. Sie waren unmittelbar unter dem etwas älteren Freskenzyklus mit der Moses- und Christusgeschichte angebracht. Die Haltungsvorrichtungen sind noch vorhanden. Um die Sockelzone nicht kahl zu lassen, hat man sie mit illusionistisch gemalten Vorhängen verziert. Die Teppiche werden aus konservatorischen Gründen in der abgedunkelten Pinakothek aufbewahrt. Nur am vergangenen 14. Juli konnte man für einen Abend sechs der Werke an ihrem ursprünglichen Ort bestaunen: eine einmalige Aktion, begleitet von einer Presseveranstaltung des Vatikans, die die Ausstellung in London ankündigen und erläutern sollte.
An jenem Abend veränderte sich für wenige Stunden der Raumeindruck der ohnehin fast vollständig ausgemalten Sixtina. Wohin das Auge schaute, blickte es auf farbenprächtige Figurenszenen, vom Boden bis zur Decke. Tatsächlich hat der moderne Besucher beim Betreten der Kapelle zunächst Schwierigkeiten, sich bei so vielen Bildakzenten in das ausgeklügelte theologische Bildprogramm einzusehen und es richtig zu lesen. Zu groß ist die Überwältigung durch die Dekorationsfülle!
Die auf „Augenhöhe“ angebrachten Wandbehänge setzen sich in ihrer Farbgebung von den kräftig leuchtenden und kontrastreichen Freskenwände ab. Auffallend sind die eingewirkten Gold- und Silberfäden, die ihnen im Kerzenlicht eine besondere altertümliche Pracht verleihen.
Die kostbaren Arazzi wurden nur zu besonderen Anlässen in der Sixtina ausgestellt; bei speziellen Staatszeremonien und an Festtagen, auch konnten sie für auswärtige Prozessionen ausgeliehen werden. Da Teppiche im Gegensatz zu Fresken und Tafelbildern leicht zu transportieren waren, wurden sie allgemein seit dem 15. Jahrhundert ein beliebtes bewegliches Ausstattungsgut der Adelshöfe. Französische und englische Herrscherhäuser rissen sich förmlich um die Kartons von italienischen Renaissancemalern, war es doch eine Möglichkeit, auf relativ unkomplizierte Art in den Besitz von Werken bekannter Künstler zu gelangen. Die Kartons konnten schließlich mehrfach als Vorlagen benutzt werden.
Entwürfe und Wandbehänge sind eigenständige Kunstwerke
Die Teppiche der Sixtina wiederholen zwar maßstabgetreu die Darstellung auf den Kartons, sind jedoch keine getreuen Kopien der Details. Das hatte technische Gründe. Der Umsetzung der Bilder in das textile Medium waren gestalterische Grenzen gesetzt. Raffael malte in Tempera auf die zuvor aus lauter kleinen Papierrechtecken zusammengeleimte Bildfläche. Es entstand ein ölbildartiges, leuchtendes wie detailfreudiges Gemälde mit feinen verschwimmenden Farbabstufungen. Der flämische Weber hat versucht, die kräftigen Farben durch den Einsatz von entsprechend eingefärbte schimmernde Schussfäden aus Seide zu imitieren. Jedoch fügen sich diese zu einem schematischeren Bild ohne fließende Farbübergänge zusammen. Auch können viele feinen Details aus der Malerei nicht übertragen werden. Entwürfe und Wandbehänge müssen also als eigenständige Kunstwerke bewertet werden und nicht als Vorlage und Imitation.
Hinzu kommt noch ein anderer wesentlicher Unterschied. Der Weber arbeitet die Vorlage auf der Rückseite des Teppichs ein. Auf der Vorderseite erscheinen die Figuren seitenverkehrt. Da die Herstellung sehr zeitaufwendig war – ein Weber benötigte für einen Quadratmeter mindestens vier Monate -, entstanden die ca. 3,5 m x 5,5 m großen Wandbehänge in Teamarbeit an mehreren Webstühlen. Die Teile wurden anschließend zusammengenäht. Zuvor mussten die Kartons in breite Streifen geschnitten werden, die sich die Weber als Vorlage hinter die wollenen Kettfäden klemmten. Die Abschnitte wurden erst im späten 17. Jahrhundert wieder auf einer neuen Unterlage zusammengefügt und sind seitdem wieder als intakte Gemälde zu bewundern.
Für die Ausstellung im Victoria and Albert Museum wurden vier der am besten erhaltenen Arazzi aus der Apostelserie ausgewählt: „Der wunderbare Fischfang“, vielleicht das schönste Exemplar überhaupt, die „Überreichung der Schlüssel an Petrus“, das „Opfer von Lystra“ und die „Heilung des Lahmen“. Auch zwei Bordüren werden die Reise an die Themse antreten. Ferner steuern der Louvre und die königliche Bibliothek in Windsor Castle Studien und Zeichenentwürfe von der Hand Raffaels bei. Die Gestalt und Ausstattung der „cappella maior“ des Apostolischen Palastes wird mithilfe eines Modells der Sixtinischen Kapelle (Maßstab 1:20) dem Besucher plastisch vor Augen geführt.
Umstritten ist die ursprüngliche Verteilung der Arazzi in der Sixtina. „Nach der neuesten Studien waren die Teppiche mit der Petrusgeschichte unter den Fresken mit der Mosesgeschichte angebracht, während die Darstellungen aus dem Leben des heiligen Paulus auf der gegenüberliegenden Wand unter dem Christuszyklus zu sehen waren“, erklärt Prof. Arnold Nesselrath, Direktor der Abteilung für byzantinische, mittelalterliche und moderne Kunst an den vatikanischen Museen.
Die Geschichte der beiden Apostel Petrus und Paulus illustrieren die Ursprünge der Kirche ex„circumcisione“ (Juden) und „ex gentibus“ (Pagane). Höhepunkt der Abfolge ist die „Schlüsselübergabe an Petrus“, in der Christus die Führung der Ecclesia dem ersten Bischof von Rom überträgt. In dem politisch religiösen Verständnis der damaligen Zeit sollte mit der Szene der Primatsanspruch des Papstes, das heißt seine Rolle als alleiniger rechtmäßiger Nachfolger Petri versinnbildlicht werden. Im Gesamtkontext des Bildprogramms der Kapelle wurde besonders die weltliche „maiestas Papalis“ betont.
Im Hinblick auf die spätere Geschichte, gemeint ist die Loslösung der englischen von der römisch-katholischen Kirche im 16. Jahrhundert, könnte man heute der Schlüsselübergabe auch eine andere Lesung geben: der Wunsch Christi, seine Schafe unter einem Hirten zusammenzuhalten, sprich der Wunsch nach Einheit der gesamten Ecclesia. Somit könnte man die Leihgaben als Botschaftsträger des Heiligen Vaters für das Gastland verstehen: Besinnung auf gemeinsame Wurzeln der beiden christlichen Kirchen und den Wunsch nach Dialog und Annäherung.
Allein schon in dem Akt der Zusammenführung von Kartons und Wandbehängen für die Ausstellung sieht Professor Nesselrath eine symbolische Bedeutung: „So wird wieder vereint, was die Geschichte vor langer Zeit getrennt hatte“.
Auf ihn geht auch die Idee und Initiative der Ausstellung zurück, die dank der ausgezeichneten Zusammenarbeit mit dem britischen Museum in nur sechs Monaten vorbereitet werden konnte. Das wäre ohne die Sponsoren der „Patrons of the Arts“ und im besonderen des australischen Ehepaares Dorothy und Michael Hintze, langjährige Förderer der Künste, undenkbar gewesen.
Die Ausstellung „Raphael cartoons and tapestries for the Sistine Chapel“ findet im Victoria and Albert Museum in London vom 8. September bis zum 17. Oktober statt.