Pilgern statt Gefängnisstrafe: ein Experiment
(Vaticanista).- Franco plagt sein rechter Fuß bei jedem Schritt. Eine Blase hat sich an der Ferse gebildet. Kein Wunder, er ist weder gewohnt 25 km am Tag zu laufen noch dicke Wanderschuhe zu tragen. Auch Nicola lässt sich stöhnend auf einem Stein am Wegrand nieder und zieht den schweren Rucksack von den schmerzenden Schultern. Es ist die erste Pause, seitdem sie vor vier Stunden von Radicofani, einem märchenhaft gelegenen Städtchen bei Siena, aufgebrochen sind. Sechs Tage und insgesamt 168 km Fußmarsch liegen vor ihnen.
„Immer noch besser als die mickrige Stunde Ausgang im Knasthof“, scherzen die anderen vier Kameraden. Davon kann Franco ein Liedchen singen: er hat die Hälfte seines Lebens, das heißt 17 Jahre, hinter Gefängnismauern zugebracht. Antonio, 59 Jahre aus Neapel, meint ernsthaft: „Ich darf Freiheit und Mühe kosten. Das habe ich noch nie erfahren.“
In der Tat geht es bei dieser außergewöhnlichen Pilgergruppe um Erfahrungen wie Überwindung von physischen Anstrengungen, Durchhalten bei Verfolgung eines Ziels, aber auch um Meditation und Naturwahrnehmung. Erfahrungen, die Antonio, Franco, Giuseppe, Marco, Nicola und Salvatore bisher nicht kannten. Denn die sechs Männer zwischen 27 und 60 Jahren sind Insassen der Strafanstalt von Rebibbia, dem römischen Stadtgefängnis. Auf ihnen und ihrem Gewissen lasten mittlere bis schwere Delikte, von Raubüberfällen, Drogenhandel bis sogar Mord. Sogenannte Gewohnheitskriminelle, deren Strafzeit sich dem Ende nähert, die jedoch riskieren, nach der Entlassung wieder in alte Verhaltens- und Sozialmuster zurückzufallen. Drehtürinsassen. „Verpfuschte Leben“, denen die Gesellschaft kaum ein Chance zu Reintegration gibt.
„Im Knast lernst Du nichts, dort steht die Zeit still, während sich das Leben draußen weiter dreht. Viele haben regelrecht Panik vor der Entlassung,“ sagt Marco. Nur 1000 von den insgesamt rund 70.000 Häftlingen in Italien können einen festen Arbeitsplatz vorweisen, ein wichtiger Anker bei dem Übergang in die Freiheit. Mit den 2010 begonnenen drastischen Kürzungen (30%) der staatlichen Förderhilfe für Resozialisierung von Straftätern sieht die Zukunft für ehemalige Insassen alles andere als rosig aus.
Es ist Prof. Paolo Caucci von Saucken, Rektor der St. Jakobsbruderschaft, der diese Häftlinge aus ihrer inneren Sackgasse befreien möchte. Ihm ist die Einführung dieses Pilotprojekts in Italien zu verdanken, das erste seiner Art. Er hat das seit einigen Jahren von dem spanischen und belgischen Justizministerium erprobte Modell der Pilgerwanderungen für jugendliche Straftäter der Direktion der römischen Strafanstalt Rebibbia vorgeschlagen und die Organisation der Durchführung übernommen.
Statt dem Jakobsweg bot sich hier die italienische via Francigena an. Über die alte Frankenstraße reisten im Mittelalter Pilger über die Alpen nach Rom, um die Apostelgräber aufzusuchen. Die letzten paar hundert Kilometer von der Toskana nach Rom wurden jüngst wieder rekonstruiert, beschildert und mit Infrastrukturen, wenn auch nur spärlich, ausgestattet. Jeden Abend müssen sich die Häftlinge bei der Polizeistation des Ortes, wo übernachtet wird, melden. Geschlafen wird in Konventen und Gemeindehäusern.
Prof. Caucci von Saucken gilt als Experte für die Geschichte des europäischen Pilgertums. Der Brauch des „Strafpilgerns“ ist uralt. Kirchliche und weltliche Gerichte legten im Mittelalter Straftätern bei mittelschweren Verbrechen bisweilen einen Bußgang zu einem Wallfahrtsort auf. Aber bei unseren Gefängnisinsassen geht es nicht um tatsächliche Straftilgung, sondern um die Erfahrung eines inneren Aufbruchs, einer Erneuerung. Dass gerade das Pilgern zu Fuß zu solchen einschneidenden Erlebnissen führen kann, wird jeder bestätigen können, der sich schon einmal auf eine längere Wallfahrtstour begeben hat. Unsere Häftlinge wurden unter einer großen Gruppe von Bewerbern sorgfältig ausgewählt. Abgesehen von den von der Gefängnisleitung vergebenen Bonuspunkten für „gute Führung“, wurde auch die innere Bereitschaft des Einzelnen von Geistlichen und Psychologen geprüft. Schließlich hofft man, dass dieses Projekt sichtbare Früchte trägt und wiederholt wird.
Im Vordergrund der Pilgerprojekts steht neben den genannten Selbsterfahrungen die Wiederfindung menschlicher Würde der Häftlinge. Wie? Indem man ihnen Vertrauen und Aufmerksamkeit schenkt, sie willkommen heißt, sie als „normale Menschen“ und nicht als Sünder behandelt. In jeder Station wurde der Empfang regelrecht inszeniert mit Blumen, Musik und Beköstigungen. Don Elia Sartori, Gemeindepfarrer von Radicofani, hat eine symbolische Fußwaschung vorgenommen. Ermunternd sind die Worte des Bischofs von Civita Castella, Monsignor Romano Rossi: “Ihr geht den Weg der Auferstehung, Ihr seid das Zeichen der Auferstehung, des festen Willens nach Veränderung.“
Die Pilgergruppe wurde von einem Vertreter der St. Jakobsbruderschaft und Monica D’Atti, Buchautorin über die via Francigena, auf ihrem Marsch betreut. Für zwei Tage begleitete sie auch der römische Journalist Antonio Maria Mira. Die Häftlinge baten ihn über diese Pilgerreise und über sie zu berichten, „damit auch den anderen Strafgefangenen eine Chance gegeben wird. Wir sind auch für sie gewandert.“ Ein ausführlicher Bericht mit Interviews erschien am 18. Juni in der Tageszeitung Avvenire.