Italien: Prekäre Aufnahmesituation für Asylsuchende
Der Flüchtlingsstrom aus Nordafrika reißt nicht ab. Durchschnittlich im Fünf-Tage-Rythmus stranden ganze Konvois von seeuntauglichen Fischkuttern voll gepfercht mit Menschen auf Lampedusa, dieser winzigen italienischen Insel vor der tunesischen Küste. Das 2007 eingeweihtes Aufnahmezentrum Contrada Imbriacola (CSPA) liegt abseits des Hafenstädtchens am Ende einer Straße vor der schroffen Felsküste.
Die Brandspuren der Revolte von Insassen vor zwei Wintern sind längst getilgt. Die blendend weiß gestrichenen Wohnkomplexe für achthundertvier Personen wirken freundlich und sauber von Außen, zumindest einladender als die benachbarte ehemalige Kaserne Loran, die zu einem sogenannten Zentrum zur Feststellung der Identität und Abschiebung notdürftig umgebaut wurde. Nach Berichten von Hilfsorganisationen sollen deren Zimmer voll mit durchgeschwitzten, fleckigen Matratzen sein, befänden sich die Sanitäranlagen sich im Hof, würde sich unter freiem Himmel gewaschen. Aber der Aufenthalt der zweihundert Immigranten ist ohnehin nur von kurzer Dauer, denn ihre Abschiebung in die Heimat ist bereits entschieden. Einen Luxus jedoch hat die Kaserne vorzuweisen: Alle Zimmer besitzen Seeblick.
Seit dem neuen Abkommen zwischen Italien und Tunesien, das am 5. April in Kraft trat, dürfen alle tunesische Bootsflüchtlinge unverzüglich wieder in die Heimat zurückgeflogen werden. Denen, die vor diesem Datum auf italienischen Territorium eingetroffen waren, ungefähr 10.000, hatte man befristete Visa ausgestellt, die Reisefreiheit innerhalb der EU gewähren. Damit sollte das durch den Massenandrang zu kollabieren drohenden italienischen Aufnahmelager entlastet werden, so die Regierung.
Tatsächlich haben die meisten Immigranten, tunesische Staatsbürger, Frankreich im Auge, aus Gründen der Sprache, der besseren Arbeitsbedingungen oder weil sie auf die Unterstützung von dort lebenden Verwandten zählen können. Die Nachbarstaaten protestierten daraufhin und reagierten mit einer Art Selbstjustiz: Frankreich schloss vorübergehend die Grenzübergänge bei Ventimiglia, während Dänemark, Deutschland und dann die Schweiz verstärkte Grenzkontrollen ankündigten. Die Vermittlungsversuche der EU waren bisher unfruchtbar.
Die italienische Regierung hatte wiederholt erklärt, sich von den anderen europäischen Staaten in der Flüchtlingsfrage alleingelassen zu fühlen. Es ginge nicht an, dass Italien allein die gesamten Folgen der politischen Umwälzungen in Nordafrika zu tragen hätte. Italien besäße auch nicht die Infrastrukturen, um eine große Flüchtlingswelle aufzufangen. Innenminister Roberto Maroni befürchtet, dass im Laufe des libyschen Bürgerkrieges, dessen Ende nicht absehbar sei, noch Hunderttausende von Asylsuchenden nach Italien fliehen könnten. In der Sitzung der EU-Innenminister am 12. Mai sprach er sogar von möglichen 1,5 Millionen Bootsflüchtlingen in den kommenden Jahren. Er fordert eine Umverteilung auf andere Schengenstaaten.
In der internationalen Presse erntet Italien ausreichend Mitgefühl, nicht das der Politiker, aber das der öffentlichen Meinung: Bilder von dramatischen Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer, überfüllten Auffanglagern verdichten sich zusammen mit den Prognosen der italienischen Regierung zu einem düsteren Szenarium der Zukunft des Landes. Es scheint ein großes Unrecht zu sein, dass Italien nur aufgrund seiner geographischen Lage von der EU zu großen Opfern gezwungen wird.
Aber ist in Italien wirklich mit einer Invasion von Bootsflüchtlingen zu rechnen? Und was hat Italien bisher in der Flüchtlingspolitik geleistet im Vergleich zu den europäischen Nachbarn?
Die furchterregende Zahlenstatistik Maronis findet zumindest in den Prognosen des Flüchtlings-Kommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) keine Bestätigung. Im Gegenteil. Federico Fossi von der Pressestelle des römischen UN-Sitzes stellte in einem letzte Woche geführten telefonischen Interview klar:
„UNHCR hat von ungefähr 750.000 potenziellen Flüchtlingen in Libyen gesprochen, aber nicht davon, dass diese in den nächsten Monaten alle über das Meer nach Lampedusa kommen werden. Das ist angesichts des bisherigen Immigrationsflusses, der von Libyen aus gesteuert zu sein scheint, mehr als unwahrscheinlich. Seit Ausbruch des Konflikts, also seit Januar, sind insgesamt ungefähr 38.000 Flüchtlinge auf italienischem Territorium gelandet (Stand 28. Mai 2011). Davon sind die Mehrzahl, nämlich 24.000, Tunesier, die keinen Anspruch auf politisches Asyl haben und ausnahmslos rückgeführt werden. Seit dem Inkrafttreten des neuen Kooperationsvertrages sind die Überfahrten aus Tunesien stark zurückgegangen. Es bleiben circa 14.000 Afrikaner, die fast ausschließlich aus den sub-saharischen Kriegsgebieten wie Elfenbeinküste, Nigeria, Ghana und Mali stammen. Es sind nur wenige Dutzend Libyer unter ihnen. Diese können das Recht auf politisches Asyl oder zumindest auf subsidiären oder humanitären Schutz geltend machen.“
Bisher sind es also 14.000 Personen, die es unterzubringen und deren Asylanträge es zu bearbeiten gilt. Die Weigerung Frankreichs und Deutschlands, Flüchtlinge aufzunehmen, begründen diese Länder mit dem Hinweis, bereits ihr Soll erfüllt haben. In der Tat hat Frankreich allein im letzten Jahr 48.000 Asylanträge bearbeitet und Deutschland knapp 42.000, hingegen Italien nur 8200, also weniger als ein Fünftel. In Italien leben 55.000 Flüchtlinge. Damit liegt es weit hinter den 600.000 Asylanten in Deutschland, den 300.000 in Großbritannien und den 200.000 in Frankreich zurück. Der Vorwurf von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, Italien hätte keinen Grund über mangelnde Solidarität der Nachbarn zu klagen, ist also nicht von der Hand zu weisen.
Warum wehrt sich die Berlusconi-Regierung mit Händen und Füssen gegen diese verhältnismäßig geringe Anzahl von Asylsuchenden?
Dass der der xenophoben Lega Nord angehörige Innenminister seit je her für einen harten Kurs in der Ausländerpolitik plädiert, ist kein Geheimnis. Für die Partei stellt das Ausländerproblem die größte Sorge der italienischen Gesellschaft dar. Als wirksamstes Mittel gegen neue Einwanderung hat Maroni den Seeweg von Afrika nach Süditalien regelrecht abriegeln lassen: in bilateralen Abkommen mit den ehemaligen Staatschefs von Libyen und Tunesien sollten diese Staaten durch verstärkte Patrouillen an den eigenen Küsten verhindern, dass überhaupt Boote mit Flüchtlingen ablegen können. Darüber hinaus durften Bootsflüchtlinge auch auf dem Meer zur Umkehr gezwungen werden bzw. der einheimischen Küstenwache übergeben werden.
Die italienische Sprecherin vom UNCHR, Laura Boldrini, hat die Politik des push-back heftig kritisiert, weil die Überprüfung der Asylberechtigung von Flüchtlingen nicht auf dem offenen Meer geleistet werden könne. Vielmehr würden alle Bootsinsassen unbesehen wieder zurück zum Ausgangshafen geschickt. Das verstoße jedoch gegen die Genfer Konventionen.
Die Durchschlagkraft dieser Politik dokumentiert sich in den Zahlen: Während 2008 noch 31.000 Menschen über das Meer flohen, waren es 2009 nur 17.000 und 2010 etwas über 8000. Maroni richtete sich auf diesen gedrosselten Fluss ein und ließ Aufnahmelager verkleinern oder gar schließen. Mit den politischen Umwälzungen wurden die bilateralen Abkommen nichtig und die Grenzen undicht. Nun hat man sich beeilt, sobald die Lage in Tunesien stabiler wurde, den Vertrag zu erneuern. Außerdem hat man der tunesischen Grenzpolizei vier nagelneue Patrouilleschiffe überreicht, die ihre Arbeit erleichtern sollen.
Roberto Maroni war es auch, der 2009 im Rahmen eines „Sicherheitspaketes“ ein Gesetz durchbrachte, das den bloßen Aufenthalt auf italienischem Territorium ohne Genehmigung zur Straftat erklärt. Diese wird mit einer Geldbuße bis zu 10.000 Euro geahndet. Für Immigranten, die der polizeilichen Anordnung binnen fünf Tagen das Staatsgebiet zu verlassen nicht nachkommen, droht sogar Freiheitsstrafe zwischen einem und vier Jahren.
Da es unrealistisch ist, dass ein mittelloser Wirtschaftsflüchtling die hohe Geldbuße bezahlen, noch innerhalb von wenigen Tagen auf eigene Kosten die Rückreise in die Heimat organisieren kann, kann der Sinn des neuen Einwanderungsgesetz also nur der sein, auf jegliche Art von Einwanderung aus dem Nicht-EU-Ausland abschreckend zu wirken. Allerdings sind in der Zwischenzeit mehr als tausend illegale Migranten aufgegriffen worden und sitzen ihre Haftstrafe ab. Der Oberste Gerichtsrat (Csm) hatte wiederholt davor gewarnt, dass mit der Einführung der Straftat die Gerichte nur unnötig belastet und die Situation in den restlos überbelegten italienischen Gefängnissen sich zusätzlich verschlechtern würde.
Kritik der Kirche
Auf die Missachtung der Menschenrechte und ungleiche Behandlung von Nicht-EU-Bürgern vor dem Gesetz wies vor allem die Kirche hin: Erzbischof Agostino Marchetto, damals Sekretär des Päpstlichen Migrantenrats, forderte unverhohlen die Zurücknahme des Gesetzes. Die bekannte Wochenzeitschrift Famiglia Cristiana verglich das Sicherheitspaket sogar mit einer Rassengesetzgebung.
„Der raue Wind eine kurzsichtigen und fremdenfeindlichen Politik, der in den Wirtshäuser der Poebene weht, ist nun im italienische Senat salonfähig geworden“, waren die harten Worte des katholischen Journals, das etwa drei Millionen Leser in Italien hat. Die Lega-Nord hatte in den von ihnen regierten Städten eine Art freiwillige Bürgerwehr für die “öffentliche Sicherheit” auf die Beine gestellt. Man wolle die Straßenkriminalität eindämmen. „Doch beschränken sich die abendlichen Streifzüge auf das Verscheuchen der Obdachlosen, bettelnden Zigeunern und vor allem dunkelhäutigen Ausländern von den Parkbänken und aus den Stadtzentren.“
Druck von der EU
Es ist der Europäische Gerichtshof, der jüngst eine Kehrtwendung in der italienischen Asylpolitik erzwungen hat. In seinem Urteilsspruch (Rechtssache C-61/11) vom 28. April heißt es, dass die strafrechtliche Sanktion in Italien im Kontrast zu den EU-Rückführungsrichtlinien für die Achtung der Grundrechte von illegalen Einwanderern stehe. Italien muss sich also ab sofort dem Urteil beugen; Haft darf nur als Sicherheitsgewahrsam in begründeten Sonderfällen und nicht als Sanktion angewandt werden. Für aufgegriffene Migranten, die die Frist für das Verlassen des Staatsgebiets überschritten haben, dürfen folglich nur in entsprechenden Strukturen (CIE) bis zu ihrer Zwangsabschiebung in Gewahrsam genommen werden. Die Abschiebung geht finanziell zu Lasten des italienischen Staates.
Situation von Asylsuchenden
Die Berlusconi-Regierung hat all ihre Kräfte und finanziellen Mittel zur Bekämpfung der illegale Einwanderung eingesetzt. Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zu den Anstrengungen für die Versorgung und Integration von Schutzberechtigten und Asylssuchenden im Lande, zu dem sie die EU-Richtlinien anhalten.
Das staatliche Aufnahmesystem SPRAR (Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugiati) war per Dekret für dieses Jahr nur für dreitausend Personen ausgerichtet. Durch den großen Flüchtlingsandrang in den letzten drei Monaten sah man sich gezwungen, das Kontingent kurzfristig zu erweitern. Man hat die Plätze in den insgesamt sechzehn Aufnahmelagern (neun CARA mit 1543 Plätzen und sieben CDA mit 4200 Plätzen) fast verdoppelt, und zwar auf 5743. Damit fehlen jedoch beim aktuellen Flüchtlingsstand noch mindestens weitere 8200 Unterbringungen. Anders als in Deutschland werden die hier sich vorwiegend in Süditalien befindlichen Aufnahmezentren von privaten Organisationen unter Aufsicht der regionalen Präfekturen geleitet. Erstmals hat man alle Regionen verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen und Notunterkünfte, häufig in Großzelten, bereitzustellen. Bisher ist keine genaue Aufstellung dieser Verteilung bekannt worden. Es ist fraglich, ob alle bisherigen Asylsuchenden vom Staat untergebracht worden sind.
Maximal sechs Monate dürfen die Flüchtlinge in diesen Einrichtungen verbleiben. Häufig genügt der Zeitraum nicht für das Asylverfahren und die Ausstellung der Aufenthaltspapiere. Laut Statistik des Innenministeriums fanden nur 42 Prozent innerhalb des Zeitraums Arbeit und Wohnraum (2009). 30 Prozent wurden nach Ablauf der Frist aus den Zentren entlassen, ohne Arbeit oder Wohnraum gefunden zu haben. Ihnen bleibt nur die Obdachlosigkeit. Die restlichen 28 Prozent verließen die Heime aus disziplinarischen oder nicht weiter beschriebenen Gründen.
Von der gesetzlich garantierten Grundversorgung des Asylbewerbers, die in einer menschenwürdigen Unterkunft, Kost, Rechtsberatung und ärztliche und psychologische Betreuung während des Asylverfahrens besteht, kann nicht die Rede sein oder zumindest nicht für die Mehrzahl der Antragsteller. Die Einrichtungen sind hoffnungslos überfüllt und oft schmutzig, es fehlt an Fachpersonal, an Beratern und Übersetzern, die Menschen sind sich selbst überlassen. Selbst nach Gewährung von Asyl, subsidiären oder humanitären Schutz sieht die Situation für die Flüchtlinge nicht besser aus. In einem von Pro Asyl veröffentlichten Bericht vom März diesen Jahres werden die katastrophalen Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Italien angeprangert. Die geschilderten Zustände beziehen sich auf den Herbst 2010, also noch vor dem politischen Umsturz in Nordafrika und Beginn der Flüchtlingswelle.
„Die meisten werden mit der Entlassung aus dem CARA obdachlos, unabhängig davon, ob ihr Asylantrag positiv, negativ oder noch nicht beschieden wurde. Bei obdachlosen Personen, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist, scheitert dann die Zustellung des Bescheides“, heißt es im Pro-Asyl-Bericht. Sie hausen in leer stehenden Häusern, in heruntergekommenen Fabrikgebäuden oder im Freien. Sie leben im absoluten Elend, denn es fehlen ihnen Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten sowie ein Zugang zum Gesundheitssystem. Den Ausweis des staatlichen Gesundheitsdienstes ist nämlich von einem festen Wohnsitz abhängig.
In diesem prekären staatlichen System stellen die Kirche und karitative und humanitäre Organisationen den einzigen Rettungsring dar. Es sind vor allem die landesweit mit einem dichten Netz vertretenen Einrichtungen der Caritas und S. Egidio, die die größte Not mildern. Sie verteilen an die Obdachlosen Decken und Medikamente im Winter, geben ganzjährig Essen aus, sprechen mit den Menschen, klären sie über ihre Rechtslage und Behördengänge auf. Natürlich sind ihre Mittel begrenzt; sie können weder Arbeitsplätze beschaffen noch Wohnraum zur Verfügung stellen.
Auch wenn anerkannten Flüchtlingen auf dem Papier eine Sozialwohnung zusteht, so decken die vorhandenen Immobilien weniger als ein Viertel des nationalen Bedarfs. Wohngeld gibt es nicht, ebenso wenig Sozialhilfe.
Über einige nach Deutschland „geflohene“ Immigranten wurde jüngst auch die deutsche Öffentlichkeit aufmerksam auf die Zustände im Nachbarland. Verwaltungsgerichte haben in einzelnen Fällen entschieden, das „Dublin-II-Verfahren“, das heißt die Abschiebung nach Italien vorläufig auszusetzen.