Ägypten zwischen Niqab und ersten Demokratieversuchen
Kairo, Januar 2012. – Auf den ersten Blick scheint die emsige Zweiundzwanzig-Millionen-Metropole unverändert. Der Kreisverkehr tobt um den riesigen Tahrir-Platz wie je. Erst wenn man auf die Insel der Platzmitte schaut, nimmt man die Spuren der Revolution vom 25. Januar letzen Jahres wahr oder vielmehr deren Nachwehen. Ungefähr ein Dutzend Zelte, aus alten Plastikplanen und Decken notdürftig gebastelt, überziehen die zum braunem Lehmboden platt getrampelte Grasfläche.
Hier kampieren Tag und Nacht fast ununterbrochen seit Ausbruch der Proteste eine kleine Gruppe von Personen, vorwiegend junge Leute. Auf Transparenten fordern sie den Rücktritt des verhassten Obersten Militärrats, der in der „Übergangsphase“ das Regiment im Lande übernommen hat. Sie misstrauen den Versprechungen des mächtigen Vorsitzenden Mohamed Hussein Tantawi, der vom Volk wegen seiner Nähe zum früheren Diktator „Mubarak’s Pudel“ genannt wird, sich mit den Streitkräften nach den freien Wahlen im Juni definitiv zurückzuziehen. „Mubarak wurde vom Militär geopfert, damit diese an der Macht bleiben können“, sagen sie hinter vorgehaltenen Hand. Sie halten die Aufhebung des dreißig Jahre geltenden Ausnahmezustandes, die Tantawi für den Jahrestag der Revolution nun angekündigt hat, nur für einen taktischen Zug, um das Ausland zu beschwichtigen. Denn für „Randalieren“, der Begriff wird nicht näher definiert, sollen sie weiter Anwendung finden. Darunter versteht das Militär auch „Verbreitung falscher Nachrichten“: eine klare Botschaft an die Facebook- und Twitter -Generation, die entscheidende Antriebsfeder dieser Revolution!
Das brutale Vorgehen gegen friedliche Demonstranten in den letzten Monaten gibt nicht geringen Anlass zu Misstrauen. Hunderte von Aktivisten wurden verhaftet, tagelang in Polizeistationen verhört und misshandelt, einige Blogger zu Geldstrafen und Gefängnis verurteilt. Nobelpreisträger Mohamed El-Baradei, westlicher Hoffnungsträger für demokratische Reformen, zog am 14. Januar überraschend seine Präsidentschaftskandidatur zurück, weil die militärische Führungsriege weiterhin die Fäden ziehe und keinen Raum für demokratische Kräfte ließe. Mit dem Protestakt hoffte er die internationale Aufmerksamkeit auf die Ereignisse hinter den Kulissen der Parlamentswahlen zu ziehen. Allerdings sind seine Parteigänger sowie die jungen Aktivisten auf dem Platz heute in der Minderheit.
An die starke Präsenz von Militär in der Nähe von staatlichen Einrichtungen und Botschaften scheinen sich die Anwohner längst gewöhnt zu haben. Die in der ersten Protestwelle abfackelte Parteizentrale des Mubarak-Regimes thront düster als rußgeschwärztes Betongerippe hinter dem Tahrir-Platz. Barrikaden aus furchteinflößenden riesigen Stacheldrahtrollen oder aufgetürmten Betonquadern versperren die Straßen zu dem nur vierhundert Meter entfernten Innenministerium. Es ist eines der schönen Viertel Kairos mit Wohnhäusern und Villen im Liberty Stil, hier sind viele ausländische Schulen. Das Innenministerium selbst wird bewacht wie eine Festung. Rund herum sind gepanzerte Fahrzeuge positioniert. Die blutjungen Soldaten mit ihren lässig geschulterten Maschinengewehren machen einen wenig Vertrauen erweckenden Eindruck. Die Konzentration des Militärs gerade vor diesem Ministerium kommt nicht von ungefähr. Schon mehrmals forderten Demonstranten den Kopf des Innenministers Mansur Essaui, den sie verantwortlich machen für die Tötung von Demonstranten durch die Sicherheitskräfte.
Nationalstolz und Optimismus siegen über den Zukunftsängsten
Wenn man aber die Ägypter auf der Straße oder im Bekanntenkreis auf die Revolution und die neue Regierung anspricht, triefen ihre Kommentare nur so vor Stolz und Optimismus. Bildlicher Ausdruck dieses anhaltenden Freudentaumels sind die Fahnen, T-Shirts und allerlei anderen Souvenirs mit Revolutionsaufdrucken, die rund um den Tahrir-Platz und im Souk feil geboten werden und die Befreiung von Diktator Mubarak glorifizieren. Mögen ausgeprägter Nationalstolz und die ein wenig hochmütige Natur des Ägypters keine ganz kritische Bestandsaufnahme zulassen. Vielleicht verbieten diese auch nur, vor Fremden offen über Probleme und Sorgen ihres Landes zu sprechen. Denn auf ihr Land lassen sie nichts kommen. Dabei wirkt die Stimmung eher angespannt. Man wartet ungeduldig auf den Neuanfang. Mit der Mubarak-Herrschaft war auch die öffentliche Ordnung teilweise zusammengebrochen. Die Straßen sind schmutziger denn je und das Verkehrschaos scheint sich selbst überlassen. In den letzten drei Monaten hat sich die Situation etwas verbessert. Dennoch liegt der Devisen bringende Tourismus immer noch brach, die Luxushotels in Kairo sind gähnend leer.
„Alles wird gut werden. Endlich sind wir frei. Das ist das Wichtigste“, schwört der dreißigjährige Abdul, der im Tourismus arbeitet. Ob denn die Partei der Moslembrüder, die Gewinner der Wahl, die Forderungen nach Demokratie und Pluralismus erfüllen kann? „Aber ja. Die Moslembrüder sind weltoffen und gemäßigt, sie werden für wirtschaftlichen Aufschwung sorgen“, antwortet er überzeugt.
Selbst liberale Intellektuelle wie der ehemalige Diplomat und heutige Chefredakteur der Tageszeitung El-Shorouk, Gamil Mattar, zeigen sich sehr zuversichtlich: „Wir sind in einer ähnlichen Situation wie die Argentinier 1983 nach der Diktatur, als sie ihre Militärjunta entmachten mussten. Es wird ein paar Jahre dauern, bis der aufgeblähte Apparat unserer Armee aufgelöst ist und ein demokratische Ordnung den Platz eingenommen hat. Aber wir sind bereits auf dem richtigen Weg.“
Der Vergleich scheint etwas gewagt, wenn man bedenkt, dass das ägyptische Militär ein Drittel der Volkswirtschaft besitzt und kontrolliert. Für Argentinien war es damals eine Rückkehr zur Demokratie, während die Ägypter die Demokratie nie zuvor kennengelernt haben.
Wenig Raum für Frauen in der zukünftigen „Demokratie“
Wie diese Demokratie aussehen soll, darüber bekommt man keine einhellige Meinung. Wenn die Scharia die ausschließliche Gesetzesquelle werden sollte, was die ultra-fundamentalistischen Salafisten und der konservative Flügel der Muslimbrüder fordern, was wird dann aus dem angeblich angestrebten Pluralismus, der Meinungsfreiheit? Was wird aus den Rechten der Frauen, wie zum Beispiel das Sorgerecht für die Kinder im Falle von Scheidung? Nur zwölf Frauen ist es gelungen, in die verfassungsgebende Versammlung (498 Sitze) gewählt zu werden. Das überrascht, wenn man bedenkt, dass der Frauenanteil unter den Internet-Aktivisten der Revolution mindestens die Hälfte betrug.
Der neokonservative Ruck ist im Alltag deutlich zu spüren. Die Frauen, die sich unverschleiert auf der Straße zeigen, sind mittlerweile eine Ausnahme geworden. In der U-Bahn gibt es strenge Geschlechtertrennung nach Wagons. Westlicher Kleidungsstil, der schließlich noch vor zehn Jahren in Kairo tonangebend war, sieht man nur noch in bestimmten Lokalen in Zamalek, in den Luxus-Hotels am Nil und in Clubs, wo die Wohlhabenden unter sich sind. Die Gründe für das Tragen des Schleiers mögen unterschiedlicher Natur sein. In jedem Fall darf er als Abgrenzung von westlicher Lebensart aufgefasst werden, als Abzeichen einer eigenen kulturellen Identität. Ob hinter der Verhüllung des Haares vor fremden männlichen Blicken primär religiöse Überzeugung steckt, wie der Westen gerne interpretiert, oder einfach nur eine Hervorhebung weiblicher Tugenden wie Keuschheit, ist schwer zu entscheiden. Sicherlich gehört heute zumindest das Kopftuch zur festen Ausstattung der Frau in der Öffentlichkeit. Manche Ägypterin von höherem Bildungsgrad, vor allem Universitätsstudentinnen, werden sich diesem gesellschaftlichen Druck einfach beugen, um sich unbehelligt auf den Straßen bewegen zu können.
Salafisten im Vormarsch
Die von dem wahabitischen Saudi Arabien gesponserten Salafisten haben während der Wahlkampagne eine private Sittenpolizei in die populären Viertel Kairos entsandt. Sie fordern in der Universität getrennte Hörsäle und Bibliotheksräume für Mann und Frau; in den Geschäfte für Damenbekleidung sollen zukünftig nur Frauen arbeiten dürfen; außerdem überredeten sie die Frauen den Niqab anzulegen, den Ganzkörperschleier. Tatsächlich sieht man in dem alten Viertel um die Al-Azhar-Moschee Frauen fast ausschließlich mit Niqab. Selbst kleine Mädchen werden bisweilen mit dem schwarzen Gewand, der bis auf einen schmalen Sehschlitz keinen Quadratzentimeter Haut herausschauen lässt, verhüllt.
„Die Sittenpolizei war nur ein Test. Man wollte die Reaktion der Leute ausloten“, wehrt Gamil Mattar ab. „Die Salafisten sind reich, sie fangen die Armen und Ungebildeten mit Geldgeschenken ein. Aber sie sind auch politisch unerfahren und taktisch ungeschickt: Sie haben von Anfang an ihr radikales Programm heraus posaunt; dass sie einen Gottesstaat wollen, dass alle Statuen im Land verhüllt werden sollen, den Dieben die Hand abgehackt werden soll. Aber das wollen die Mehrheit der Ägypter nicht, die stets einen moderaten Islam anhingen und andere Religionen tolerierten.“
Dass ihre Partei, Al Nour, zu deutsch „das Licht“, mit 24 Prozent die zweitstärkste Fraktion im Parlament geworden ist, sieht der siebzigjährige Ägypter nicht weiter als besorgniserregend. „Die Muslimbrüder werden zusammen mit den säkularen Parteien einen Gottesstaat nicht zulassen. Sie sind mit den Salafisten zerstritten.“ Dennoch könnten die Fundamentalisten ihren Einfluss weiter ausdehnen. Die hohe Analphabetenrate (40 Prozent), vor allem unter Frauen (60 Prozent) und die extreme Armut sind ein fruchtbarer Boden für radikale Ideen.
Unsichere Zukunft für Minderheitenreligionen
Die wenigen Ägypter, die offen Zweifel und Kritik äußern, finden sich vor allem unter Personen mit hohem Bildungsniveau westlicher Prägung — und unter den Kopten. Letztere sind als Minderheitenreligion (10-14%) heute mehr denn je Intoleranz und Aggressionen seitens der Fundamentalisten ausgesetzt. Die Salafisten schlugen eine Kopfsteuer für Nichtmoslems vor. Der Umgang mit dem christlichen Mitbürger gilt unter den ausländischen Beobachtern allgemein als Barometer für den tatsächlichen Stand von Demokratie und Toleranz in Ägypten. Die wachsende Sorge des Vatikans im Hinblick auf die Zukunft der Kopten ist nicht unbegründet.
Emile Amen, katholischer Kopte und freier Journalist, will trotz der Bedrohung sein Land nicht verlassen. „Das Christentum hat es lange vor dem Islam am Nil gegeben. Viele meiner Glaubensgenossen würden lieber gehen als bleiben. Aber ich bin bereit, für meine Religion zu kämpfen.“
Hoffnung auf eine moderaten Islam setzen viele Kopten in die „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ der Muslimbrüder, die mit 47 Prozent die größte Fraktion darstellen. In der Partei profilieren sich zurzeit junge erfahrene Geschäftsleute, die versuchen, die älteren, für eine Theokratie plädierenden, Mitglieder zurückzudrängen. Die Progressiven treten nach eigenen Angaben für die Demokratie, Religionsfreiheit und Pluralismus ein, wollen Frauen und Nichtmoslems an der Regierung beteiligen. In ihrem politisches Programm werben sie mit Ausbau von Wirtschaft, Sozialleistungen und Sicherheit für die Bürger. Die Akzeptanz der Partei auch in den unteren Bevölkerungsschichten basiert auf einem von der Bruderschaft geschickt aufgebautem Sozialnetz, das aus Armenspeisungen und sanitärer Assistenz besteht. Natürlich wird entscheidend sein, welcher Flügel sich innerhalb der Partei durchsetzen kann und ob den liberalen Worten auch Taten folgen werden. Von Geschlechtergleichstellung kann bisher nicht die Rede sein.
Abhängigkeit vom Militär
Das Ergebnis des arabischen Frühlings in Ägypten hängt jedoch vor allem von der zukünftigen Rolle der Streitkräfte ab. Der Militärrat ringt derzeit mit dem gewählten Parlament, um die Kontrolle sowohl über das Innen- als auch über das Verteidigungsministerium zu behalten. Allianzen mit politischen Parteien haben sich noch nicht herauskristallisiert, sind aber möglich. Dabei sympathisiert das Militär weder mit den Fundamentalisten noch mit der demokratische Mitsprache fordernden parteilosen Studentengeneration. Sie sucht Verbündete in der Mitte. Für die Armee steht die Stabilität des Landes im Vordergrund. Nur so sind ihre Geschäfte und der ausländische Geldfluss, die Milliardenhilfe aus den USA, garantiert. Ein Alkohol- und Bikiniverbot würde nur den Tourismus abhalten. Daher werden sie versuchen, den religiösen Extremismus in Schach zu halten.
Angst vor Einmischung des Westens
Auf der anderen Seite lassen sie sich in Sachen Menschenrechtsverletzungen nicht gerne Vorhaltungen machen, schon gar nicht vom Ausland. Nicht zufällig wurden kürzlich in den Büros ausländischer Menschenrechtsorganisationen und Stiftungen Razzien durchgeführt. Dreiundvierzig ihrer Mitarbeiter werden beschuldigt, darunter der Sohn des US-Verkehrsministers, ohne Lizenz zu arbeiten und die Landeshoheit verletzt zu haben. Dass selbst die seit 30 Jahren in Kairo tätige Konrad-Adenauer-Stiftung ins Visier der Ermittler geriet, zeigt die Angst vor auswärtiger Einmischung in den post-revolutionären „Demokratieprozess“. Denn dieser wird mit aller Wahrscheinlichkeit nicht den europäischen Vorstellungen und Erwartungen entsprechen.