Rom’s neuer Bürgermeister Ignazio Marino
(magazin-forum.de) Die kurvige Auffahrtsrampe zum Kapitol ist im letzten Abschnitt recht steil. Ignazio Marino nimmt sie aufrecht stehend, während er mit ganzem Gewicht in die Pedalen tritt. Oben angekommen, springt der 58jährige elegant vom Sattel und stellt das Rad direkt vor dem Seiteneingang des Rathauses ab. Ein mehr als ungewöhnliches Bild im von Autos und knatternden Mopeds beherrschten Straßenbild. Zumal für das Regierungsoberhaupt der Stadt.
Manche Römer meinen, der neue Bürgermeister könnte auch genauso gut mit einem Raumschiff ins Büro fliegen. Beide Fortbewegungsmittel seien gleich ungeeignet für das hügelige, dicht bebaute Rom mit seinem holprigen Kopfsteinpflaster und Parkproblemen. Den Spitznamen „Marsmensch“ trägt Marino mit Stolz, seitdem ihm dieser vom Gegenkandidat und Vorgänger Gianni Alemanno an den Kopf geknallt wurde: „Er sollte mich irritieren, in Wirklichkeit trifft er genau zu,“ schmunzelt Marino und zwinkert mit seinen lebhaften Eskimo-Augen.
Nur ein „Außenirdischer“, einer, der nicht aus dem Sumpf der etablierten Politikerkaste, der lokalen Lobbys stammt, könne die dicke Kruste von Vetternwirtschaft, Privilegien und veralteten Sichtweisen aufbrechen und wirklich Neues schaffen. Davon ist Marino fest überzeugt.
Nun, ein Außerirdischer ist er in vielerlei Hinsicht. Er ist gebürtiger Genuese, also kein Römer. Sein Ambiente war alles andere als die politische Schaubühne: Marino ist eine der besten italienischen Chirurgen, der über 20 Jahre in England und den USA verbracht und von dort neue Techniken der Lebertransplantation in die Heimat eingeführt hat! Aus der Konfrontation mit den hiesigen Behörden sei der Wunsch erwachsen, zu den Schaltstellen, das heißt in die Politik zu wechseln. Er kandidierte erstmals erfolgreich 2006 bei den Senatswahlen für den linksliberalen Partito Democratico. Man ernannte ihn zum Vorsitzenden der Hygiene- und Gesundheitskommission des Senats, in deren Auftrag er eine landesweite Studie über die Effizienz des staatlichen Gesundheitssystems durchführte. Sein Kampf für die Abschaffung der geschlossenen Anstalten für Kriminelle, in denen Zustände wie im 19. Jahrhundert herrschen, machten ihn in der breiten Öffentlichkeit bekannt. Marino kennt die Probleme seiner Landsleute, als Arzt und Politiker. Aber er ist eben kein Populist wie sein Vorgänger Alemanno, der seine Lehrzeit in der neofaschistischen Partei MSI absolvierte und der in den letzten Monaten seiner Amtszeit in diverse Skandale von Korruption und Amtsmissbrauch verstrickt war.
Wenn jemand in diesem Moloch Rom noch etwas ändern kann, dann Marino! Sein bescheidenes Auftreten und stets freundlicher Ton erweckte Vertrauen in den Wählern, die der arroganten Politikergarde überdrüssig sind. Sein triumphierenden Wahlsieg von knapp 64 Prozent im vergangenen Juni wird auch der fehlenden Unterstützung durch die Parteispitze zugeschrieben. Einzelkämpfer Marino hat stets die römischen Salons gemieden. Mut und Beharrlichkeit bewies er schon 2001, als er gegen den Willen der Ärzteschaft als erster in Italien eine Lebertransplantation an einem hiv-positiven Jungen durchführte. Es ist heute ein approbierter Eingriff.
Verschuldeter Stadtrat soll abspecken
„Wenn sich mein Sohn etwas in den Kopf setzt, so kann ihn keiner bremsen,“ sagte seine 91-jährige Mutter Valeria Mazzanti. Die kleine, am Stock gehende Frau wurde damals artig von ihrem Sohn ins Wahllokal begleitet, so wie es sich gehört in Italien. Eine wichtige Bildbotschaft an die älteren Wähler, denn Marino, der sich selbst als gläubiger Katholik bezeichnet, vertritt gleichzeitig viele unkonventionelle, anti-katholische Ansichten: Patientenverfügung, passive Sterbehilfe, gesetzliche Gleichstellung von homosexuellen Paaren, strikte Trennung von Staat und Kirche. Also ein moderner, aufgeschlossener Katholik, keiner der orthodoxen Linie, der sich ein gutbürgerliches, katholisches Image nur aus strategischen Gründen zugelegt hat. Als Arzt hat er zahlreiche Publikationen zu bioethischen Themen verfasst. Bei Papst Franziskus, mit dem ihn viele soziale Ideen und karitative Projekte verbinden, war er auch schon zur Privataudienz. Selbstverständlich mit dem Fahrrad, im blauen Anzug und fliegendem Schlips.
Ach ja, das Fahrrad. Die Bürger haben sich mittlerweile an den Anblick des radelnden Bürgermeisters in den engen Gassen, sogar auf den stark befahrenen Konsularstraßen gewöhnt. Man erkennt ihn leicht an der Eskorte: zwei Polizisten in Shorts, mit Helm und Trillerpfeife. Zugegeben, Marino hat gerade sein altes Citybike gegen ein komfortables Elektrobike eingetauscht. So kommt er leichter die sieben Hügel hoch und verschwitzt nicht seine Hemden auf den täglichen Dienstfahrten.
Die Sache ist ihm ernst. Die luxuriöse Flotte von 226 Dienstwagen der Kommune, die 17 Mio Euro jährlich verschluckt, steht nun zur Hälfte geparkt in der Garage. Zukünftig muss jede einzelne Fahrt angemeldet und begründet werden. Der beliebte stopover im Einkaufszentrum oder Restaurant zwischen zwei Terminen ist nicht mehr drin! Gespart werden muss ohnehin im Hinblick auf das erschreckende Bilanzloch von 867 Mio Euro, das Erbe seiner Vorgänger.
Weitere Elektrobikes sollen anstelle der Autos im öffentlichen Dienst eingesetzt werden. Geplant ist ein Korps von 40 Verkehrspolizisten auf Rädern in der Altstadt zwischen Spanischer Treppe und Campo de’ Fiori. Kritiker entgegneten, der Bürgermeister solle lieber erst einmal die Schlaglöcher ausbessern, verblasste Zebrastreifen nachpinseln und Fahrradwege anlegen lassen. Tatsächlich gibt es in der Stadt so gut wie keine Fahrradpisten, die den Bürgern das Radeln schmackhaft werden lassen könnten. Radfahrer gelten in Rom als seltene Paradiesvögel.
Vision vom autofreien Zentrum
„Es ist es utopisch zu glauben, von heute auf morgen das gesamte Verkehrsnetz und Gewohnheiten umstellen zu können. Das geht nur in kleinen Schritten,“ verteidigt sich Marino. Indessen will er mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass man durchaus für kurze Strecken innerhalb des Zentrums das Fahrrad nehmen kann. Denn die bekannte Affinität der Römer zu Motoren ist auch eine Mentalitätsfrage. Man liebt es, mit dem Wagen direkt vor die Tür zu fahren. Während Auto und Vespa in den meisten europäischen Städten als längst überholt gelten, sind sie hier immer noch aktuelle Prestigeobjekt.
Hinzu kommt ein urbanistisches Problem: Rom’s Zentrum ist eine gewachsene Struktur aus dem Mittelalter, die nach der Erfindung des Automobils nicht den neuen Verkehrsbedingungen angepasst wurde. Es gibt kaum breitere Arterien in der Stadt, um heute wenigsten den reibungslosen Fluss der 8000 Taxen und 6000 Busse zu garantieren. Die längste Schneise, die via del Corso, stammt sogar aus der Antike und ist gerade mal zweispurig. Die Erhaltung der bewohnten historischen Altstadt, einzigartig in diesen Dimensionen, ist also Glück und Unglück zugleich! Durch die wachsende Mobilität der 3 Mio Einwohner und der jährlich 10 Mio Touristen sind Abgasbelastung und vor allem der Lärm im Zentrum jedoch unerträglich geworden.
Man hätte schon vor Jahrzehnten radikale Lösungen schaffen müssen: Ausbau des U-Bahnnetzes – erst jetzt wird die dritte Linie gebaut – und Bannung aller Benzin- und Dieselfahrzeuge aus dem Zentrum. Die gern angeführte Begründung, der Metroausbau sei stets von den Archäologen gebremst worden, ist heute nicht mehr haltbar. Genauso wenig wie der Widerstand der Dienstwagenlobby der Staatsregierung!
Größter archäologischer Park der Welt
Dass ein Bürgermeister nun endlich hart durchgreift, ist nur zu begrüßen. Marino hat als erste Maßnahme angekündigt, das Zentrum schritt- und partieweise in eine Fußgängerzone zu verwandeln. Am 3. August wurde die von Mussolini angelegte sechsspurige via dei Fori Imperiali, die das antike Forum in zwei Teile zersägt, im Bereich des Kolosseums für den Privatverkehr geschlossen. Nicht ohne lautstarke Proteste der Bürgerkomitees der Umgehungsstraßen, versteht sich. Bis vor kurzem donnerten noch Tausende von Autos und Touristenbusse täglich über den Asphalt und hüllten das Amphitheater und die antiken Tempel in eine graue Abgaswolke. Von den Schäden am Marmor ganz zu schweigen. Touristen konnten den Erklärungen des Guides nur mithilfe von Kopfhörern folgen. Heute ist das Flanieren und Atmen auf den breiten Bürgersteigen überhaupt wieder möglich geworden.
Geplant ist die Zusammenlegung des zerstückelten antiken Geländes zu einer geschlossenen, 2500 Hektar großen Parkanlage: ein Grüngürtel, der sich vom Kapitol bis zum Kolosseum, von den Kaiserforen und der Domus Aurea im Norden über den Palatin und den Circus Maximus hinweg bis zur via Appiaim Südosten erstrecken soll. Es schließt auch ein kulturelles Projekt mit ein, ein lang gehegter Traum der Archäologen: die Freilegung der Kaiserforen, die damals für den Bau der protzigen Allee großenteils zugeschüttet wurde. Sie diente den faschistischen Aufmärschen für den Duce, der sich als neuer Caesar bejubeln ließ. Daran werden die Römer allerdings nur ungern erinnert.
“Wir werden die Schichten Roms ‚frei schneiden‘”, begeistert sich der Chirurg. Von dem kleinen Balkon seines Büros hoch oben auf dem Kapitol hat er die alte via Triumphalis, die Kurie Caesars, die ganze glorreiche Vergangenheit des einstigen Nabels der Welt vor Augen. Der tägliche Anblick auf den unwürdigen Zustand der Ruinen brannte Marino offenbar auf der Seele. Eine erste Brise des frischen Windes kann man schon nach nur 4 Monaten Amtszeit spüren. Wenn Marino sein Skalpell weiterhin so schnell und präzise einsetzen sollte, um andere Missstände der Stadt zu entfernen, können sich die Römer endlich auf eine Zukunft freuen und müssen nicht länger vom verblassten Ruhm vergangener Tage zehren.