Alberto Giacometti in der barocken Villa Borghese in Rom
Rom.- Nach vier langen Jahrzehnten ehrt Rom erstmals wieder Alberto Giacometti (1901-1966), einer der am meisten gefeierten Bildhauer der Moderne. Mit Italien verbindet ihn nur der Name, geboren und aufgewachsen ist der Künstler im schweizerischen Graubünden. In Paris fand er hingegen seine zweite Heimat, wo auch sein Hauptoeuvre entstand. Und dennoch soll ein früher Studienaufenthalt in der antiken Kunstmetropole Rom – Giacometti war damals gerade erst Zwanzig (1921) – sein weiteres Schaffen nachhaltig beeinflusst haben. Die Bewunderung für die antike Plastik, insbesondere für die archaische und ägyptische, lebt im Stand- und Schreitmotiv und der hieratischen Frontalität seiner Bronzefiguren nach.
40 Meisterwerke
An diesen Aufenthalt möchten nun die Kunsthistorikerin Dr. Anna Coliva und der Giacometti-Experte Prof. Christian Klemm mit rund 40 Meisterwerken erinnern, die sie als Leihgaben aus dem Züricher Kunsthaus und verschiedenen anderen Sammlungen für eine Ausstellung nach Rom holten. Als Schauplatz wählten sie ausgerechnet das prächtige, mit Kunstwerken überfüllte Landhaus des Borghese-Papstes Paul V. vor den Toren der Stadt, das als der Inbegriff des barocken Überschwangs gilt. Die Konfrontation mit der Moderne wagt die Galleria Borghese nicht zum ersten Mal: sie beherbergte bereits eine Retrospektive zu Francis Bacon und zwei monumentale Plastiken von Georg Baselitz.
Für Giacomettis minimalistischen, formarmen Skulpturen stellt der Kontext jedoch eine neue Herausforderung dar. Coliva, engagierte Direktorin der Galerie, stellte die rauen, hageren, fleischlosen Bronzefiguren Giacomettis den bewegten, pralle Sinnesfreude ausstrahlenden Marmorstatuen Lorenzo Berninis gegenüber. Der Kontrast zwischen dem Meister der Moderne und dem Formgenie des 17. Jahrhunderts könnte nicht größer.
Beide beschäftigten sich mit der Darstellung der menschlichen Figur. Abgesehen von der entgegengesetzten Körperauffassung unterscheiden sich die Exponate auch in ihrer Beziehung zum Raum und Betrachter. Um die allansichtigen, lebensgroßen Bernini-Gruppen wie der Raub der Persephone, Apoll und Daphne, oder auch Einzelfiguren wie David mit der Steinschleuder zu verstehen, muss der Betrachter diese umschreiten. Erst dann kann er aus den verschiedenen Blickwinkeln Details studieren, die sich wie in einem Bilderbuch zu einer Geschichte verdichten. Aus diesem Grunde stehen die Statuen auch im Zentrum der Säle.
Ganz anders die auf strenge Frontalansicht konzepierten, langbeinigen bronzenen Männer- und Frauenfiguren von Giacometti, die der Betrachter aus der Entfernung studieren muss, damit ihr Silhouettencharakter zur Geltung kommt. Insofern verschwinden manche feingliedrigen Metallobjekten vor dem Hintergrund der überladenen Wandinkrustationen und werden von dem überbordenden antiken und barocken Inventar der Säle verschluckt. Man muss sie mit dem Auge suchen und virtuell freischneiden von der Umgebung. Wenn der Besucher bereit ist, sich auf diese Herausforderung einzulassen, kann die Gegenüberstellung der zwei Konzepte des menschlichen Körpers zu neuen Reflexionen führen. Von dem rein Visuellen gleitet man schnell zu der Frage des inneren Menschenbildes. Diese hat den Existenzialisten und Freund von Jean Paul Sartre ein Leben lang beschäftigt. Die misanthropisch wirkenden, leicht nach vorne gebeugten, ausgemergelten Gestalten scheinen den Städter im postindustriellen Zeitalter darzustellen: Die Männer und Frauen, kraftlos und doch zäh, sind Symbol der Fragilität und Einsamkeit des modernen Individuums, ein Serienprodukt ohne individuelle Züge. Der stets von Zweifeln geplagte Giacometti sprach selbst von der „Tragik der modernen Skulptur“.
Unter den ausgestellten Exponaten befinden sich ein paar außerordentlich schöne wie bedeutende Werke des heute hoch dotierten Künstlers. Dazu gehören die frühe „Löffelfrau“ von 1927 oder die elegante, an ägyptische Statuen erinnernde kopflose „Schreitende Frau“ von 1932, die aus einem naturalistischen Intervall stammt. Als Highlight gilt der „Schreitende Mann“ aus dem Züricher Kunsthaus. Insgesamt zeigen die 34 Bronze- und Gipsobjekte und 4 Zeichnungen ein breites Spektrum seiner künstlerischen Evolution. Es reicht von den kubistischen Anfängen in den Zwanzigern über die intensive surrealistische Phase (1930-1935) bis zu den verschiedenen Stufen seines Spätwerkes, in der die Figuren zunehmend in die Höhe wachsen. Während der Depression des zweiten Weltkrieges schrumpfen die fadendünnen Bronzemännchen hingegen auf wenige Zentimeter wie der „Mann, der im Regen läuft“ (1947).
Zur Spätphase gehört beispielsweise die Gruppenkomposition, die Giacometti 1960 für den Vorplatz des Chase Manhattan Plaza, einer New Yorker Bank, geschaffen hat. Diesen begegnet der Besucher zuerst beim Betreten des großen Eingangssaals der Villa. Auch sehr beeindruckend sind die drei ehernen Büsten in dem luftigeren Obergeschoss, die in den letzten Lebensjahren entstanden: „Lothar III“, „Annette“ (seine Ehefrau) und „Männerbüste“. Sie stehen vis à vis von zwei marmornen Bernini-Büsten, die Scipio Borghese porträtieren, den kunstsinnigen Papstneffen und Gründer der Sammlung.
In genau jenem Geschoss verharrte der junge Giacometti im Jahr 1921 vor der Pietà von Rubens. Der Gedanke der Wiederaufnahme des Studiums der alten Meister und einer Rückkehr nach Rom muss ihn kurz vor seinem vorzeitigen Tod beschäftigt haben. Denn der Visionär schreibt auf der Schiffsreise zu seiner letzten Ausstellung nach New York: „Ich sehe mich plötzlich in der Galleria Borghese in Rom, während ich Rubens kopiere, eine der großen Entdeckungen jenen Tages.“
Die Ausstellung „Giacometti. La scultura„ wurde von Arthemisia Group organisiert und von privaten Sponsoren finanziert. Sie öffnet heute erstmals für das Publikum und endet am 25. Mai 2014.