„Die freie Marktwirtschaft muss neu überdacht werden“

Wahres und Falsches zu Papst Franziskus‘ Kapitalismuskritik. Podiumsdiskussion mit Vatikanisten Tornielli und Galeazzi

Keine der Reformen und Verlautbarungen von Papst Franziskus hat derart starken Widerhall gefunden wie seine Kapitalismuskritik, die er im apostolischen Schreiben „evangelii gaudium“ darlegte. Derzufolge schliesse bestehende Wirtschaftsform Menschen aus und schaffe Ungleichheit, Unzufriedenheit und Gewalt.

Die Kritik hat eine umfassende Debatte ausgelöst, innerhalb und außerhalb der katholischen Welt. Während ihn konservative Kreise den Beinamen „Trotzkist“ gaben, belächelten ihn namhafte Ökonomen als „Wirtschafts-Dilettant“. Sie  warfen ihm vor, er würde die „negativen Erfahrungen des von der Regierung verschuldeten wirtschaftlichen Bankrotts im Heimatland Argentinien auf seine Sicht der Weltwirtschaft übertragen“. Bergoglios Beklagen der Nebeneffekte des derzeitigen globalisierten Kapitalismus, wie das sinnentleerte Konsumverhalten und die Wegwerf-Kultur, hätten mit der spezifischen Haltungsethik zu tun. Sie sei wie auch die soziale Schere vom einzelnen Staat bzw. der Gesellschaft selbst zu beeinflussen und zu regulieren. Die unerwünschten Nebenerscheinungen erlaubten keine grundsätzliche Systemkritik, wurde argumentiert.

 

P. Bernd Hagenkord, Chefredakteur der deutschen Ausgabe von Radio Vatikan, hat jüngst festgestellt, dass der reiche Westen empfindlich reagiert, wenn man die freie Marktwirtschaft kritisiert und das unbeschränkte und absolute Recht auf Eigentum in Frage stellt, wie es Papst Franziskus tat. „Wenn es um Eigentum geht, hört bei uns hier im Westen der Spaß auf. Da geht es um‘s Eingemachte“, schreibt er in seinem Blog am 8. Februar. „Die Wirtschaftsordnung, die uns hier in Deutschland, Österreich und der Schweiz reich gemacht hat, schafft Armut und Hunger und Tod.“

Laut Oxfam wird im kommenden Jahr das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr besitzen als die restlichen 99 Prozent zusammen. Unverhältnismäßiger Reichtum wird vor allem durch Finanzgeschäfte und Spekulationen akkumuliert, die nichts produzieren. Zwar hat die Globalisierung des Kapitalismus den Welthunger insgesamt reduziert, hat aber gleichzeitig eine neue Armut geschaffen, und das auch in Europa. Die aktuelle Krise in Griechenland, die sich zu einer humanitären ausgeweitet hat, ist nur ein Beispiel. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit von 43 Prozent in Italien, der drittstärksten Wirtschaftsmacht in der EU, macht deutlich, dass in Europa eine ganze Generation von zukünftigen Armen in Anmarsch ist. Es handelt sich nicht mehr nur um eine zu vernachlässigende Minderheit.

 

Buch von Andrea Tornielli und Giacomo Galeazzi
Buch von Andrea Tornielli und Giacomo Galeazzi

Mit stichhaltigen Argumenten versuchen nun zwei renommierte italienische Vatikan-Journalisten darzulegen, warum die verteidigen nun eine Kritik am Wirtschaftssystem doch zulässig sei. Gleichzeitig verlangen sie, dass der päpstliche Diskurs von einer politischen Ideologisierung abgehoben werden müsse. Andrea Tornielli und Giacomo Galeazzi von der linksliberalen Turiner Tageszeitung La Stampa haben ihre These in dem Buch „Papst Franziskus. Diese Wirtschaft tötet. Das System global überdenken“ niedergelegt (bisher nur in italienisch). Die Autoren stellen es heute Abend in der katholischen Universität Collegium Augustinianum in Rom vor. Die Buchpräsentation wird von einer offenen Debatte begleitet, zu der Theologen, die Reform-Ministerin und anerkannten Wirtschaftsexperten, wie dem Vorsitzenden der Christlichen Arbeiterbewegung, Carlo Costalli, eingeladen sind.

Die Autoren haben die Aussagen des Papstes zur Finanzwelt, Armut, Immigration und sozialer Gerechtigkeit gesammelt und sie in Beziehung zum Evangelium und der Tradition der katholischen Soziallehre gesetzt. Das Buch endet mit einem ausführlichen Interview der beiden Herausgeber mit Papst Franziskus selbst.

Die Vatikanisten legen darin dar, dass Bergoglios Kritik an der ungleichen Verteilung der Güter und Lebenschancen keineswegs neu ist – auch wenn seine Radikalität und Direktheit ein Unikum darstellen. Es sei die Lehre von Ambrosius bis zu Paul VI., dass Eigentum kein unbedingtes Recht sei. „Niemand hat das Recht etwas zurück zu halten, was über die eigene Bedürfnisbefriedigung hinaus geht, in dem Moment, wenn andere bedürftig sind.“ Bereits Pius XI. (1929-39) hat nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 in seiner Enzyklika Quadragesimo Anno vor einem „internationalen Imperialismus des Geldes“ gewarnt. Und Paul VI. sprach in Populorum Progressio im Jahr 1967 davon, dass das Privateigentum dem Gemeinwohl unterworfen sei. „Das sind nicht nur Aussagen, die immer noch wahr sind, sondern je mehr Zeit vergeht, desto zutreffender werden sie durch die Erfahrung erwiesen,“ kommentiert Papst Franziskus in dem Interview.

 

Aber es geht nicht nur um die „christliche Pflicht des Teilens und der Solidarität“. Tornielli und Galeazzi sehen die Wurzel der sozialen Ungerechtigkeit durchaus in unserem Wirtschaftssystem begründet. Es herrsche „eine Ideologie der totalen Marktfreiheit und Finanzspekulation, die dem Staat das Recht auf Kontrolle entzieht“. Und sie wehren sich dagegen, dass dem Kirchenoberhaupt und den Gläubigen nur die Rolle der „Moralapostel“, der lautlosen Beschützer der Armen und Schwachen zugestanden wird und dass sie in den Kirchenraum verwiesen werden. Sie verlangen zusammen mit Papst Franziskus eine tiefere Reflexion über unser Wirtschaftssystem im Spiegel des Evangeliums. Bergoglio wünscht sich ausdrücklich von den verantwortlichen Politikern und Wirtschaftsführern „einen mutigen Einstellungswandel“. Dass ihm ein solcher am Herzen liegt, wird seine nächste Enzyklika zeigen. Darin soll das Thema erneut behandelt werden.

 

Die Buchpräsentation und Podiumsdiskussion findet am 12.2.2015 im Istituto Patristico Augustinianum, Via Paolo VI, 25 in Rom statt. Das Buch erschien am 15. Januar unter dem Titel “Papa Francesco. Questa economia uccide. Verlag Piemme, 228 Seiten, ISBN 978-88-566-4495-1