Flüchtlingschaos an italienischen Bahnhöfen
Der Mailänder Hauptbahnhof ist ein eleganter, klassizistischer Monumentalbau aus Travertin. Seit Tagen gleicht er einem Flüchtlingscamp und Müllplatz. Hunderte Flüchtlinge kauern auf zerrissenen Pappkartons in der Vorhalle oder liegen ausgestreckt im blanken Gras der Grünflächen. Die ersten Nächte verbrachten sie unter freiem Himmel ohne Decken bis endlich das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen Rettungsdecken aus Aluminium verteilten. Allein gestern wurden fast 500 Migranten gezählt. Täglich kommen neue hinzu.
Nur Mütter mit kleinen Kindern werden noch in den völlig überlaufenen Betreuungszentren aufgenommen. Die Stadt musste in kürzester Zeit Sozialarbeiter, Dolmetscher und freiwillige Helfer mobilisieren, die die Menschen mit dem Nötigsten versorgen. Sie verteilen Wasserflaschen und Lebensmittel. Ein Ärzteteam des regionalen Gesundheitsamtes führt Schnellvisiten in mobilen Ambulanzen durch. Viele Menschen sind unterernährt, manche krank. Bisher wurden über sechzig Fälle von Krätze diagnostiziert. Keine tödliche, aber eine sehr unangenehme wie ansteckende Hautkrankheit, deren Verbreitung es einzudämmen gilt. Das größte Problem jedoch ist das der Hygiene. In dem Bahnhof gibt es nur eine öffentliche Toilette.
Hoffnung auf Weiterreise in den Norden
Es handelt sich um Bootsflüchtlinge vornehmlich aus Syrien und Eritrea, die in den letzten Tagen oder Wochen in Sizilien und Lampedusa gelandet sind. Italien beherbergt derzeit 76.000 Migranten in Aufnahmezentren, die völlig überlastet sind. Da vor allem die süditalienischen Auffanglager vor dem Kollaps stehen, werden die Flüchtlinge nach Norditalien durchgewunken. Sie sollen entweder in den wohlhabenden Metropolen Unterschlupf finden oder in die Nachbarländer ausreisen, um dort den Asylantrag zu stellen. Auf die letztere Ventil-Lösung hofft die italienische Regierung mehr oder weniger offen, denn sie sieht sich mit dem akuten Flüchtlingsproblem von der EU im Stich gelassen. Premierminister Matteo Renzi drängt seit Monaten auf eine neue Quotenregelung unter den EU-Mitgliedsstaaten. Diese wurde zwar von der EU-Kommission vor kurzem in Aussicht gestellt. Dennoch wurde noch nicht konkret entschieden, auf welche Länder die 42.000 Migranten aus Italien und Griechenland umverlegt werden sollen – weil sich viele Nachbarn weigern, Flüchtlinge aufzunehmen. Und solange keine neue Regelung geschaffen wird, sieht sich Italien gezwungen, sich über die geltende Dublin-II-Verordnung hinwegzusetzen. Diese verpflichtet das Einreiseland zum Ort der Asylantragstellung.
Rückstau durch Aussetzen von Schengen
Der Mailänder Hauptbahnhof ist kein Einzelfall. Auch in Rom, an der Stazione Tiburtina, und entlang der norditalienischen Grenze campieren Hunderte von Flüchtlingen. Dieser Rückstau hat sich durch das dreiwöchige Aussetzen des Schengener Abkommens in Deutschland gebildet. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) ordnete am 25. Mai im Rahmen des G7 Gipfels verstärkte Sicherheitskontrollen an den deutschen Grenzen an. Erst ab dem heutigen 15. Juni soll ein “offener Grenzverkehr” wieder möglich sein. Bis gestern wurden jedenfalls alle Flüchtlinge rigoros an der Grenze abgewiesen. Auch die Franzosen haben den Grenzübergang bei Ventimiglia in Ligurien für Migranten geschlossen – mit dem Verweis auf Sicherheitsmaßnahmen. Eine offizielle Erklärung der französischen Regierung liegt noch nicht vor. Offenbar hatten die deutsche und französischen Grenzbeamten bis zum Aussetzen von Schengen im Mai hier und da ein Auge zugedrückt und Flüchtlinge – die meisten sind an ihrer Hausfarbe leicht zu erkennen – passieren lassen.
Tatsächlich haben die wenigsten Flüchtlinge vor, in Italien zu bleiben. Sie hoffen, nach Frankreich, Deutschland oder Skandinavien weiterreisen zu können, in Länder mit besseren Sozialstandards und Arbeitsmöglichkeiten als das krisengeschüttelte Italien, das seit jeher in Unterbringungen und Integration von Asylsuchenden unter dem europäischen Durchschnitt rangiert.
Viele der Bürgerkriegsflüchtlingen sind ohne Dokumente und Geld, weil man sie an libyschen oder anderen Checkpoints ausgeraubt hat. Der Mailänder Bahnhof ist seit letztem Jahr, als die Flüchtlingswelle mit der Eskalation des syrischen Bürgerkriegs rapide anstieg, Treffpunkt und vor allem Startpunkt für die Weiterreise nach Mittel- und Nordeuropa. Eine Weiterreise, die natürlich nicht in legaler Weise erfolgen kann. Die verzweifelten Menschen setzen auf Schlepperbanden, die mit Bussen und Autos bereit stehen. Wer nicht bezahlen kann, hofft zumindest auf bessere Infrastrukturen, für die die Lombardei als reichste und entwickelteste Region Italiens bekannt ist.
Partei Lega Nord verweigert Aufnahme
Eine neue Quotenregelung ist nicht nur auf EU-Ebene umstritten, sondern auch innerhalb der italienischen Gesellschaft. Das Flüchtlingsaufkommen hat eine heftige Debatte im eigenen Land ausgelöst. Premierminister Renzi hat die reichen norditalienischen Regionen dazu verdonnert, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Denn bisher trägt ausgerechnet der arbeitslose Süden mit fast 45 % die Hauptlast. Die von der xenophoben Lega-Nord-Partei regierten Regionen Lombardei und Venezien weigern sich jedoch strikt, Migranten aufzunehmen. Seit Wochen nähren ihre Regierungspräsidenten zusammen mit Lega-Parteisekretär Matteo Salvini eine populistische Polemik gegen farbige und muslimische Einwanderer. Sie verlangen die Grenzen zu schließen, über die sie das Einschleusen von Terroristen und Epidemien zu fürchten vorgeben. Regierungschef von Venezien, Luca Zaia, der vor kurzem bei den Regionalwahlen einen durchschlagenden Erfolg verbuchen konnte, argumentiert zudem, dass Migranten eine abschreckende Wirkung auf den nahenden Badetourismus an der Adria haben könnten.
Italienische Bischöfe appellieren an Bevölkerung
Angelo Kardinal Bagnasco, Vorsitzender der italienischen Bischofskonferenz, versucht mit Vehemenz gegen die verbreiteten Ängste und Vorurteile gegenüber Fremden anzugehen: “Angst ist ein schlechter Ratgeber. Legalität heißt nicht Verschließung”, betonte er am vergangenen Freitag noch einmal auf dem National Day des Heiligen Stuhls auf der Expo in Mailand. “Sicherheit und Legalität sind Pflicht eines demokratischen und zivilen Staates, aber diese Pflicht kann nicht die Grenzschließung und die Verweigerung der Aufnahme von Hilfesuchenden sein!” Die italienischen Bischöfe stehen seit Jahren an vorderster Front gegen Fremdenfeindlichkeit, und das nicht nur ideologischer Hinsicht. In fast allen Bistümern und Gemeinden werden Flüchtlinge untergebracht oder anderweitig versorgt, sie stellen außerdem viele freiwillige Helfer. Im ligurischen Ventimiglia hat die Ortsbevölkerung Essen, Getränke und Kleidung für die knapp hundert Afrikaner herbeigetragen, die nach der Abweisung an der französischen Grenze seit Tagen an dem ungeschützten Felsstrand festsitzen.