Politiker und Bürokraten vertrödeln die Sanierung der Unesco-Altstadt von Neapel. Lang erwartete EU-Gelder gehen verloren
Zenit.org – „Alles verstehen heißt alles verzeihen“ lautet ein alter Spruch. Aber was man nicht versteht, kann man schlecht verzeihen. Schwer nachvollziehbar ist, warum die Stadt Neapel EU-Gelder für die Sanierung der Altstadt hat verfallen lassen. Dabei wartet der historische Stadtkern seit Jahren auf Rettungsmaßnahmen. Die Mittel dazu wurden im fernen 2008 von der EU zur Verfügung gestellt. Die Arbeiten hätten zum 31. Dezember 2015 abgeschlossen sein müssen. Diese haben jedoch zum Großteil noch nicht einmal begonnen.
Brüssel verlangt nun die nicht ausgegeben Gelder zurück. Weitaus peinlicher jedoch ist die öffentliche Rüge der Unesco, die einen Rechenschaftsbericht vom italienischen Kulturminister fordert. Nach dem Desaster der Pompeji-Rettung riskiert Italien erneut einen Gesichtsverlust.
Die Altstadt von Neapel ist einer der ältesten und größten Europas. Das griechische Straßennetz aus der Gründungszeit und die einzigartige Denkmälerdichte veranlassen 1995 die Unesco, es in die vornehme Liste des Welterbes aufzunehmen. Im Unterschied zu den anderen historischen Zentren Italiens ist das von Neapel nicht gepflegt, im Gegenteil. Über 200 Kirchen sind seit dem Erdbeben im Jahr 1980 geschlossen, viele davon geplündert. Bedeutende Paläste, Bibliotheken und Konvente sind seit Jahren dem Verfall preisgegeben. Sie führen ein unwürdiges Dasein inmitten des Labyrinths schmuddeliger Gassen, in die sich kaum ein Tourist wagt.
Aus großen Plänen werden kleine
Die Rettung aus der Agonie kommt schließlich aus Europa. Der 3,4 Milliarden schwere Topf des EU-Strukturfonds für Regionalentwicklung bietet 2008 endlich Gelegenheit für eine umfassende Sanierung (EFRE 2007-2013). Nur sind sich leider Stadt und Region nicht einig über die Investitionen. Es wird endlos über den Umfang diskutiert und verhandelt – bis 2011. Dann entscheidet man sich für das Gießkannenprinzip. Der „Kulturfonds“ wird gestreut und auf verschiedene Großprojekte in der Stadt verteilt. Aus den versprochenen 280 Mio werden erst 200 Mio und zuletzt 100 Mio Euro. Eine geringe Summe, um das proklamierte Ziel einer „kulturellen Wiedergeburt und dauerhaften Aufwertung“ der Altstadt zu erreichen.
Aber besser als nichts. Man einigt sich 2012 auf 27 Objekte, die restauriert oder ausgegraben werden sollen wie das römische Theater. Vorrang erhält auf Druck der Kurie die Restaurierung der Domkapellen, obwohl es dringendere Fassadeninstandsetzungen gegeben hätte. Die ersten Arbeiten starten jedoch nicht sofort, sondern erst im Sommer 2014. Das Ergebnis: am Stichtag im Dezember 2015 sind nur drei Projekte abgeschlossen. Skandalöser ist, dass bisher überhaupt nur neun Baustellen eröffnet wurden. Die restlichen 18 Projekte sind entweder noch in der Planungsphase oder werden jetzt erst ausgeschrieben.
Zu viele Köche verderben den Brei
Die einzelnen Institutionen schieben sich gegenseitig die Schuld an den Verzögerungen in die Schuhe. Fünf verschiedene Behörden und Körperschaften sind in das „Grande Progetto Unesco“ eingebunden, so verlangt es das Gesetz. Das allein verkompliziert die Planung und Umsetzung von Programmen. Die Akten wandern zwischen Region, Stadt, Kulturministerium, interregionalen Bauamt und Erzbistum, dem Eigentümer der Kirchen, endlos hin und her. Zusätzlich überschattet sind die langen Dienstwege von der alten Konkurrenz zwischen der Region, die über die Vergabe der Gelder entscheidet, und der stolzen Metropolitanstadt Neapel, dem Projektleiter. Aber auch innerhalb der Kommune fehlt es an einer geschlossenen Linie, an Kontinuität. Bürgermeister Luigi De Magistris wechselt seinen gesamten Mitarbeiterstab nach und nach aus, inklusive Bau- und Kulturreferenten.
Die Unesco-Inspektoren reisen Ende 2012 mit den Versprechungen des Stadtvaters wieder ab, dass die Verspätungen aufgeholt werden würden. Erst danach wird die Projektleitung mit der Einrichtung eines “zentralen Regieraums” neu organisiert. Eine Task Force aus dem römischen Ministerium für territoriale Kohäsion koordiniert nun die Zusammenarbeit der einzelnen Behörden. Man fragt sich, warum der Staat so spät eingreift. Die letzten zwei Jahre arbeitet das Team nonstop. Die unzähligen Normen und Kontrollinstanzen des Bau- und Denkmalamtes fordern ihre Zeit. Diese sind in Italien sehr streng. Es ist eine gewachsene, starre Struktur der Kulturgüterverwaltung, in der penibel vorgegangen wird. Mit den neuen Auflagen zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Mafia-Infiltration in das Baugewerbe dauert die Phase der Ausschreibung und des Auswahlverfahrens der Firmen noch länger als sonst.
Schuld der Politik oder der Bürokratie?
Für Prof. Aldo Aveta, Experte für Architekturrestaurierung an der staatlichen Universität Federico II, hat die Verspätung politische und kulturelle Ursachen. Es hätte an politischem Willen und Weitblick gefehlt, der Aufwertung dieses Stadtteils Priorität zu geben und das Projekt in Synergie durchzuziehen. „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.“
Die Stadtregierung ist übrigens keineswegs in Verlegenheit wegen des Zeit- und Geldverlusts. “Die noch ausstehenden Arbeiten werden über die Fonds der nächsten Förderperiode 2014-2020 finanziert”, beschwichtigt Projektleiter Carmine Piscopo. Er verschweigt jedoch, dass daraus eigentlich neue und nicht alte Restaurierungen bezahlt werden sollten. Das war die Vertröstung wegen des beschnittenen Budgets.
Das Altstadtprojekt ist nur ein kleiner Mosaikstein in dem ehrgeizigen Modernisierungsprogramm des parteilosen Bürgermeisters, ein ehemaliger Anti-Mafia-Staatsanwalt. Dazu gehören der Metro- und Hafenausbau, die Sanierung von dem Messegelände aus dem Faschismus. Die Infrastruktur der rückständigen Golfregion soll auf mitteleuropäischen Standard gebracht werden, lautete sein Wahlversprechen. Aber auch jene Arbeiten haben den Zeitrahmen nicht eingehalten, sind teilweise noch in der Embryonalphase. Die Region Kampanien verliert damit über die Hälfte der Finanzierung – weil es ihr an strategischem Management fehlt. Das bedeutet einen doppelten Verlust für die nationale Wirtschaft, denn Italien zahlt mehr EU-Beiträge ein als es zurückbekommt. Die nicht ausgegeben Gelder sind ein großes Problem für das arme Süditalien.
Verpasste Chance eines Aufschwunges
Besonders wütend ist das Bürgerkomitee Portosalvo. “Die Neapolitaner wurden um ihr Kunsterbe und neue Arbeitsplätze betrogen”, resümiert Antonio Pariante. Seit 2012 fordern sie sogar die Rückgabe des Unesco-Welterbe-Titels. Sie schämen sich für die Unfähigkeit ihre Politiker. Dem Komitee fällt heute nur ein knappes “Sorry Unesco” ein, das sie auf Facebook gepostet haben.
De Magistris hat im Januar den Abschluss der Restaurierung des Doms als einen großen Erfolgs feiern lassen, eines der drei fertig gewordenen Projekte. Mit einem Fahrstuhl können nun die Besucher das Dach erklimmen und die Aussicht auf die Altstadt genießen. Unten, in den Gassen schreitet der Verfall indes weiter fort. Auf dem Decumanus liegen Müll und ausgebrannte Mofagerippe herum. Von den meisten Hausfassaden bröckelt der Putz. Heute wohnt im Zentrum vor allem das einfache Volk, leider auch die Camorra. Seitdem Bandenfehden immer häufiger auf offener Straße ausgetragen wurden, hat Rom 250 Militärs in die kritischen Ecken entsandt. Eines ist klar: Die Altstadtbewohner gehören nicht zu den Wählern, um deren Gunst sich die Politiker bemühen.