Nach langen Jahren glücklosen Exils landete die ungeliebte, stille Tochter des deutschen Literaturnobelpreisträgers zufällig auf Capri – und blieb. Zum Entsetzen der Familie verliebte sie sich in einen Fischer und lebte über dreissig Jahre mit ihm in der Villa Monacone.
NZZ 29.01.2021 – Um die gesamte Frontseite der Villa Monacone aufs Bild zu bekommen, bedarf es einer Drohne, zu steil ist die wilde Küste an dieser Stelle Capris. Wie eine verwunschene Einsiedelei krallt sich das verschachtelte Haus an die Felsenkluft, gebettet in üppige Macchia aus Myrte und Ginster, überragt von schattenspendenden hohen Pinien. Ein atemraubend schöner Wanderweg entlang der Steilküste streift die Villa. In nur zwanzig Minuten erreicht man sie von der quirligen Piazzetta des Hauptorts über die Via Tragara und ihre Verlängerung, die Via del Pizzolungo.
Von der eleganten Säulenveranda im obersten Stock schaute Monika Mann jeden Morgen auf das tiefblaue Wasser, auf die spitz aufragenden Faraglioni, an denen sich die Brandung bricht. Die Felsbrocken habe der geblendete Zyklop Polyphem ins Meer geschleudert, um Odysseus an der Flucht zu hindern, erzählt der alte Mythos. Heute schippern Touristenboote um die Brandungspfeiler, und Guides versprechen Liebespaaren ewige Liebe, wenn sie sich beim Durchfahren unter einem Felsbogen küssen.
Dem Charme erlegen
Eine dauerhafte Liebesgeschichte hat das karstige italienische Eiland auch Monika Mann beschert. Die ungeliebte Tochter des Lübecker Nobelpreisträgers hat mehr als dreissig Jahre an der Seite eines Capresen verbracht, eines «Fischers», wie sich ihre Schwester Erika entrüstete. Es waren ihre glücklichsten Jahre.
Als Monika Mann 1954 in Capri ankam, steckte sie inmitten einer Lebenskrise. Die Nazis hatten ihr und ihrer Familie die Heimat geraubt und sie ins Exil nach Frankreich und England gezwungen. Auf der Flucht nach Kanada ertrank 1940 ihr Mann vor ihren Augen, während sie selbst zwanzig Stunden über den Ozean trieb, nur an eine kleine Barke geklammert. Als sie mit den Eltern nach dreizehn Jahren aus dem amerikanischen Exil zurückkehrte, wählte sie nicht die Schweiz als neuen Wohnsitz, sondern Italien. Das Land erinnerte sie an glückliche Studientage vor dem Krieg. Freunde empfahlen ihr, eine Ferienreise nach Capri zu machen, weil ihr Rom zu chaotisch war. Sie erlag sofort dem Charme der Insel, mehr noch dem der Villa Monacone und ihres Besitzers Antonio Spadaro. Sie entschloss sich zu bleiben. «Ich hatte die Intellektuellen ungeheuer satt. Und dann sah er unverschämt gut aus . . . und ich verliebte mich in den Gedanken, endlich irgendwo zu bleiben.»
Spadaro war ein capresischer Maurer und Fischer, aber wie viele seiner Landsleute hatte er kosmopolitisches Flair. Seit Kindertagen sah er ausländische Künstler und Schriftsteller als Untermieter im Haus ein und aus gehen. Auf Fotos macht er den Eindruck eines distinguierten Städters und nicht den eines sonnengegerbten Fischers. «Sensibel, weise, tiefgründig. Er versteht», notiert die 44-jährige Monika Mann nach der Begegnung. Hier scheint sie jedenfalls die Geborgenheit gefunden zu haben, die ihr in der Familie immer gefehlt hat.
Mehr als drei Jahrzehnte lebte sie in der Villa Monacone, die Antonios Grossvater Ciro 1880 eigenhändig erbaut hatte. Monika Mann verwandelte sich in eine perfekte «donna caprese», die sich um das Haus kümmerte und ihren «Toni» liebevoll bekochte. Am Nachmittag half sie ihm in der Bar oder dabei, die kleinen Terrakotta-Souvenirs oder Miniatursegelschiffe, die er selbst bastelte, an Touristen zu verkaufen. Am Abend döste er häufig auf dem Sessel, während sie klassische Musik hörte, las oder schrieb. Es wurden auch ihre literarisch fruchtbarsten Jahre. Fast 400 Feuilletonbeiträge, meist kleine Geschichten und Betrachtungen, publizierte sie in verschiedenen Zeitungen, hinzu kamen fünf Bücher.
Obwohl sie ihm ihre Biografie widmete, hat Antonio nie «Vergangenes und Gegenwärtiges» gelesen. Der kleine Band, in dem sie in sehr weiblich- expressivem Stil ihre persönliche Sicht auf die berühmte Verwandtschaft darlegte, brachte der sonst wenig beachteten Mann-Tochter einen ansehnlichen Erfolg in Deutschland ein, aber eben nur in der Heimat. Ins Italienische wurde er nicht übersetzt.
Spadaro nannte Monika in der Öffentlichkeit respektvoll «Signora», möglicherweise, um vor der traditionellen Inselgesellschaft eine gewisse Form zu wahren: Sie haben nie geheiratet. Sie meinte einmal, «man heiratet nur einmal im Leben». Jedenfalls führten sie ein sehr zurückgezogenes und – nach ihren Worten – erfülltes Leben. Mit den mondänen Auswüchsen des internationalen Jetsets, der damals auf der Insel tobte, hatte sie nichts zu tun. Nicht einmal mit der Künstlerszene. In der nahe gelegenen Villa Malaparte drehte der Meister der Nouvelle Vague, Jean-Luc Godard, 1963 «Die Verachtung», und Literaten wie Alberto Moravia waren ihre Nachbarn. Sie fühlte sich von der stoischen Einfachheit der Capresen angezogen, von der Kunstfertigkeit ihres Handwerks («sie sind alle Künstler»), sie freute sich an der farbigen Natur, an den weissen Gässchen, an den Früchten der steinigen Erde. Viele ihrer Beobachtungen hielt sie in Zeitungsessays fest.
Von der Säulenveranda im obersten Stock der Villa schaute Monika Mann jeden Morgen auf das tiefblaue Wasser und die spitz aufragenden Faraglioni, an denen sich die Brandung bricht.
Für die Insulaner blieb sie allerdings ein Fremdling. Der einheimische Arzt Giuseppe Spirito sagte über sie: «Sie war sehr verschlossen . . . ihre Bindung an die Welt war Antonio. Dabei konnte es ja gar nicht zwei unterschiedlichere Menschen geben . . . Also, ich will nicht sagen, für Monika sei Antonio der ‹edle Wilde› gewesen, im Sinne Rousseaus, aber vielleicht doch irgendetwas in dieser Art.»
Strich unter die Vergangenheit
Ihre Familie spottete aus der Schweiz über ihre Liaison mit dem «alten Fischer». Aber die abfälligen Bemerkungen trafen sie nicht mehr wie früher. Das «dumpf-wunderliche Mönle» (Katia Mann) war von klein auf als trotzige Aussenseiterin betrachtet worden, der man kein nennenswertes literarisches Talent zusprach. Mutter Katia urteilte hart in einem Brief 1949 über ihre «halb begabten, geschmacksunsicheren, danebengehenden Produkte». Sie verbot sich eine eigene Auswertung des biografischen Materials, schon gar Bemerkungen über den patriarchalischen Vater. Dass Monika Mann sehr musikalisch und vielseitig begabt war, zählte für die Familie nicht – vielleicht, weil sie auf keinem Gebiet so brillierte, dass eine Karriere daraus wurde. Sie war sich dessen durchaus bewusst. Ironisch wandte sie sich 1972 an den Schriftsteller Martin Gregor-Dellin: «Falls Sie mich nicht kennen: Ich bin das vierte der sechs ungeratenen T.-M.-Kinder.» Der Tod ihres übermächtigen Vaters 1955, der aus seiner Ablehnung nie ein Hehl gemacht hatte, war für sie eine Befreiung, ihr neues Leben auf einer Mittelmeerinsel fernab der intellektuellen Zirkel ein Bruch mit dem Lebensmodell der Eltern. Es mag kein Zufall sein, dass die Aufzeichnung ihrer Biografie mit dem Tod ihres Vaters zusammenfiel. Es war ein Schlussstrich unter ihre unglückliche Kindheit, ja ihre Vergangenheit.
Ihr Glück endete mit dem Tod von Antonio im Dezember 1985. Die Erben liessen Monika Mann nur sechs Monate, um die Villa zu räumen. Einen Rechtsanspruch besass sie nicht, obgleich sie für die Kosten aufgekommen war. Sie zog zunächst an den Zürichsee, nach Kilchberg ins Elternhaus, das ihr mit ihrem Bruder Golo gehörte. Konflikte mit Golo zwangen sie jedoch bald, sich eine neue Bleibe zu suchen. Die Witwe von Golos Adoptivsohn nahm sie schliesslich in Leverkusen auf, wo sie, von der Aussenwelt vergessen, 1992 kurz vor ihrem 82. Geburtstag starb.
Inzwischen ist die Villa Monacone erweitert, parzelliert und weiterverkauft worden. Der von Monika Mann und Antonio Spadaro bewohnte Trakt liegt im ersten Geschoss, man erkennt ihn an den blauen Fensterläden. Von der einstigen Ausstattung ist nichts mehr erhalten – die Schriftstellerin brachte alles Mobiliar nach Kilchberg. Doch haben die neuen Besitzer, eine angesehene neapolitanische Gelehrtenfamilie, versucht, den schlichten Charakter des «Fischerhauses» zu bewahren. Sie sind stolz auf die Geschichte dieser Mauern und ihre illustren Bewohner. Hier und da vermieten sie an Feriengäste. Unverändert ist die schilfgedeckte Veranda zwischen den weissen Säulen, wo das Paar die Abende verbrachte und man filmreife Sonnenuntergänge über dem Meer bewundern kann.
Die Wandmalereien des jungen Oskar Kokoschka, der die Villa 1912 anmietete, hatte der empörte Besitzer damals leider entfernt, nicht ahnend, dass der ungestüme Gast zu einem der bedeutendsten Expressionisten avancieren würde. Sie hätten den Wert der Villa zweifellos gesteigert – und Touristen angelockt. Pech oder Glück? Vielleicht doch Letzteres. Denn die Stille und Einsamkeit in diesem Winkel Capris ist unbezahlbar.
Vor kurzem kündigte der Bürgermeister an, die kleine Aussichtsterrasse unterhalb des Hauses, den Belvedere del Pizzolungo, nach Monika Mann zu benennen. Sobald die Pandemie vorbei ist, wird es eine öffentliche Ehrung geben. Das wird nun auch Zeit. Bisher sucht man vergeblich nach einer Gedenktafel für die Schriftstellerin.
Gut zu wissen
Reisezeit: Das milde Klima und die überquellende Vegetation machen das autofreie Capri ganzjährig attraktiv. Wanderlustige sollten die heissen Sommermonate Juli und August meiden. Im August ist die Insel voller Neapolitaner.
Küsten-Wanderweg: Der rund eineinhalbstündige Wanderweg Pizzolungo schlängelt sich der östlichen Steilküste entlang und ist für seine abwechslungsreichen Panoramen auf das Meer und die Halbinsel von Sorrent berühmt. Der Weg startet bei Punto Tragara und führt über Rampen und Treppen zur geheimnisvollen Grotta Matromania, einer antiken Kultstätte in einer Grotte, und zum Arco Naturale, der wie ein mächtiger Triumphbogen aus dem Meer ragt. Höhepunkt ist der Blick auf die rostrote Villa Malaparte. Das Glanzstück des Rationalismus liegt wie ein gestrandeter Wal auf einer Klippe und ist nur mit dem Boot erreichbar.
Villa Monacone: Sie wird auf Anfrage wochenweise vermietet (http://villamonacone.altervista.org/)
Tipp: 2021 wird der Kreuzfahrttourismus noch nicht wiederaufleben. Eine Chance, die Insel authentisch zu erleben.