Warum regen sich die Italiener so sehr über ein kritisches Essay in der Frankfurter Rundschau über ihren Nationaldichter Dante Alighieri auf?
Es ist schon wunderlich, dass ein ironisch-provokativer Kommentar eines deutschen Journalisten zum Jubiläum von Dante Alighieri beinahe eine Staatskrise auszulösen vermag. Für die Italiener kam er einem Sakrileg gleich, denn auf ihren Nationaldichter, den Sommo poeta, der die vom Volk gesprochene Sprache zu den Höhen der Literatur erhob, lassen sie nichts kommen. Die Divina Commedia ist bis heute die wichtigste Schullektüre, und jeder Italiener kann ein paar Terzinen auswendig. Zeigte doch der Erfolg der Dante-Tournee des bekannten Komikers und Regisseurs Roberto Benigni, auf der er die Höllenreise Zeile für Zeile erklärte, dass der mittelalterlich Poet keineswegs nur von der älteren und gebildeten Generation verstanden werden kann. Jedenfalls geht die Popularität Dantes in Italien weit über unsere gemeine Kenntnis und Verehrung Goethes hinaus. Vielleicht haben wir deswegen kein Problem damit, eine Filmkomödie mit „Fack ju Göte“ zu betiteln. Aber der Reihe nach.
Der gestandene Literaturkritiker und früherer Feuilletonchef von „Die Zeit“, Arno Widmann, gedachte zu dem in Italien kürzlich instituierten Dante-Tag am 25. März, der den Auftakt zu den Feiern anlässlich des 700. Todestag gab, statt der üblichen Lobpreisungen mal ein paar Zeilen gegen den Strom zu schreiben. Der streitbare Feingeist, der bei Theodor Adorno studiert und Mediävisten wie Umberto Eco übersetzt hat, kann es sich schließlich leisten. Das mit Zitaten und Querverweisen getränkte „Pamphlet“ gegen Dante sieht zumindest für den Laien so aus, als handele es sich um eine sachverständige Kritik.
Widmann relativiert darin die Leistungen des Florentiner Dichters erheblich: der „Schöpfer der italienischen Sprache“ habe die Idee, in Landessprache und nicht mehr in Latein zu dichten, von den provenzalischen Troubadouren übernommen, die vor den Katharer-Kreuzzügen im 13. Jahrhundert in Scharen an die italienischen Höfe geflohen waren. Seine Jenseitsreise sei hingegen von muslimischen Berichten über Mohammeds Himmelfahrt angeregt worden, mit der Absicht, die islamische Konkurrenzreligion mit einer christlichen Version zu überbieten. Dante Ehrgeiz sei „sportlich“ gewesen, „das Unmögliche war sein Element“. Gleichzeitig kritisiert der 74jährige Journalist die gnadenlose Einteilung seiner Protagonisten in Gut (Himmel) und Böse (Hölle). Das amoralische Werk des laizistischen Shakespeare schiene um Lichtjahre moderner als das des über alle und alles richtende katholischen Nationalhelden, findet Widmann.
Derby Italien-Deutschland
Nun ist die Frankfurter Rundschau nicht unbedingt ein Blatt von großer Reichweite oder internationaler Autorität. Dennoch löste der Artikel einen Sturm der Entrüstung im Belpaese aus, der durch die gesamten Medien fegte und sogar die Politik auf den Plan rief. Die Meinung des Journalisten wurde plötzlich zum Sprachrohr der Bundesrepublik erklärt. Auslöser des Tumults war offenbar die heftige Reaktion in Form eines Gegenartikels der linksliberalen Tageszeitung La Repubblica, der wie sich schnell herausstellte, nicht auf einer wörtlichen Übersetzung sondern einer überzogenen, tendenziösen Interpretation beruhte. Sie legte Widmann die Behauptung in den Mund, Dante sei ein Karrierist und Plagiator gewesen. Die Italiener hätten im Grunde nichts zu feiern.
Der Tweet von Kulturminister Dario Franceschini, ein Dante-Zitat (sinngemäß: „ignorieren wir sie einfach“) schien die Schmähung zu bestätigen, obwohl der Minister den Artikel nur aus zweiter Hand kannte, nicht im Original. Aber auch der Hinweis auf eine nicht korrekte Lesart konnte den Schaden nicht mehr beheben. Der „gemeine Italiener“ fühlte sich mitten ins Herz getroffen- „Ein unglaublicher Angriff der Deutschen auf Dante“ lauteten die Schlagzeilen. Die Beschuldigungen schossen wie Pingpong-Bälle zwischen der italienischen und deutschen Presse hin und her. Die Leiter der deutschen Kulturinstitute in Rom wurden nach ihrer persönlichen Stellung befragt, ob sie auf „deutscher“ oder „italienischer“ Seite stünden.
Die Intervention des angesehenen deutschen Direktors der Uffizien in Florenz, Eike Schmid, hat die Wogen nicht glätten können, als er Widmann als eitel und nicht ausreichend kompetent in der Materie bezeichnete. Noch weniger die FAZ, die im gewohnt gereiztem Ton darauf hinwies, dass Italien jede Gelegenheit nutze, den Deutschlandhass zu schüren. Die Journalisten und Politiker sollen sich besser informieren, bevor sie zur Feder greifen oder ein Tweet posten. In der Tat nahmen rechtsnationale Populisten wie der Lega-Chef Matteo Salvini den „verletzten Nationalstolz“ zum Anlass, das altbekannte Klischee des von feindlichem Europa attackierten Italien in den sozialen Medien aufleben zu lassen. Parteikollegen wollen sich nun den Sitz Dantes im Pantheon der Weltliteratur von der EU patentieren lassen.
Viel Lärm um Nichts
Dass Widmann seine Polemik selber gar nicht so ernst nahm oder anders ausgedrückt, sie als persönliches Essay und nicht als wissenschaftlichen Beitrag verstanden wissen wollte, zeigt das drei Tage später erschienene Interview, das er dem befreundeten Roberto Saviano für den Corriere della Sera gab. Darin sprach er von einem Missverständnis und beteuerte die Leistungen des italienischen Dichters anzuerkennen.
Ohne hier auf die diskutablen Fundamente seiner Argumentation im Einzelnen eingehen zu wollen: Es ist augenscheinlich, dass Widmann der Dante-Trubel im Jubiläumsjahr auf die Nerven ging und er ein wenig am Gold der Dichterikone kratzen wollte. Seine Polemik ist nicht abzustreiten, die wurde schon richtig verstanden – auch nach Abzug der Übersetzungsfehler. Dass sie von hohem Niveau war und von einem Linken kam, spielte keine Rolle. Alle in Italien fielen darauf hinein. Das zeigt einmal mehr, wie aufgeladen und polarisiert die Gesellschaft hierzulande ist, immer bereit sich in einem Derby zu zerfleischen. Und die Politiker mischen ungefragt mit und nutzen jede Polemik, um ihre Fraktion zu stärken. Das Internet hat den Blick für reisserische Titel geschärft. Vor 15 Jahren hätten ein paar Dante-Forscher die Argumente Widmanns auseinander genommen und widerlegt, eventuell nur in Form von Leserbriefen. Und damit wäre die Angelegenheit erledigt gewesen.
Verunsicherte Nation
Heute weht ein anderer Wind. Die Pandemie mag die Nerven über das Maß gespannt haben. Aber die Empfindlichkeit gegenüber ausländischer Kritik, insbesondere aus Deutschland, hat schon seit der Eurokrise stetig zugenommen. Sie wird grundsätzlich emotional und nicht rational diskutiert. Minderwertigkeitskomplex? Vielleicht. Auch viel verletzter Stolz. Selbst der Italiener versteht die Gegensätze im eigenen Lande nicht: die intellektuellen und kreativen eccellenze einerseits, die erschreckende Staatsverschuldung und wirtschaftliche Talfahrt andererseits. Und nun kommt dieser deutsche Journalist und will ihm nun die letzte Gewissheit rauben, die ihm geblieben ist: Dante, Sinnbild des immensen Kulturerbes und Erinnerungsmal der einstigen Höchstleistung Italiens.