Er war ein guter Junge: wie man ein Mafioso wird

In Sizilien entkommt man weder der Familie noch der Mafia. Simonetta Agnello Hornby erzählt in ihrem neuen spannenden Roman, wie die Mafia das Leben einer unbescholtenen Generation und einer paradiesischen Insel ruinierte

Wird man als Mafioso geboren oder dazu gemacht? Für die Sizilianerin Simonetta Agnello Hornby kann man die besten charakterlichen Voraussetzungen mitbringen wie Santino und Giovanni, „bravi ragazzi“, rechtsschaffende Jungs, die eine unbeschwerte Kindheit in Pertuso Piccione verbindet, ein Heile-Welt-Dorf im Hinterland von Sciacca, im arabisch geprägten Südwesten der Mittelmeerinsel.

Doch die sizilianische Gesellschaft diktiert ihre eigenen Regeln, zumindest, wenn man sozial und wirtschaftlich aufsteigen will. Und das will Santino, der vaterlos und in prekären Verhältnissen groß wird und sich mit Fleiß vom Maurergehilfen zum Baulöwen hochdient. Giovanni, Klassenbester, schlägt den akademischen Weg ein und wird ein glänzender Strafverteidiger von dubiosen, mächtigen Persönlichkeiten in Palermo. Wir befinden uns in den 1970er und 1980er Jahren, jenen Jahrzehnten, in denen reichlich öffentliche Gelder in den Süden strömen und der Zement in Städten wie Palermo und Agrigent ungehemmt boomt. Am Ende der Epoche wird ein brutaler Mafiakrieg toben.

„Cosa Nostra“ wird nie namentlich erwähnt, sondern wage umschrieben: „Politiker und Verwaltungsbeamte konnten wechseln, doch egal, wer sie waren oder wo sie politisch standen, man musste sie auf seiner Seite wissen“, lernt der junge Santino im Baugewerbe. Anspielungen und konkrete Ereignisse lassen den Leser die immer enger werdenden Verstrickungen der Protagonisten mit korrupten Unternehmern und Gestalten der „ehrenwerten Gesellschaft“ ahnen: ihr Umzug in die besten Wohnviertel, die eleganten Empfänge mit ausgesuchten Politikern und Unternehmern, schließlich der ehemalige Arbeitgeber von Santino, nunmehr sein Konkurrent bei öffentlichen Ausschreibungen, der eines Morgens bäuchlings im frischgegossenen Beton gefunden wird. Eine direkte Warnung an Santino, der zu mächtig geworden ist? Als seine aus billigem Beton, am Gesetz vorbei gebaute Brücke einstürzt, gerät er ins Visier der Staatsanwaltschaft und bittet seinen alten Schulfreund um juristischen Beistand. Der jedoch sieht sich in der Sackgasse und unternimmt einen unerwarteten Schritt.

Eine Schlüsselrolle im Roman nehmen die Mütter ein, starke, dominante Persönlichkeiten, Strippenzieherinnen, die, selbst gefangen in den veralteten bürgerlichen Konventionen, sich mitschuldig am moralischen Untergang ihrer Söhne machen. So erzwingt die von Ehrgeiz besessene Cettina über die Verkuppelung von Sohn Giovanni mit einer reichen, norditalienischen Unternehmertochter ihren eigenen gesellschaftlichen Aufstieg, den ihr der früh verstorbene Ehemann versagt hatte. Nur Anna, Giovannis Geliebte aus den Universitätsjahren, eine linke Umweltaktivistin, appelliert an sein Gewissen und zeigt, dass es noch einen anderen Typ von Sizilianerin gibt: der sich gegen die kriminelle Elite auflehnt und für eine demokratische Gesellschaft streitet. Annas mutiger Kampf für eine gerechte staatliche Wasserwirtschaft, also gegen die Privatisierung der Brunnen und Leitungen durch Clans, könnte aktueller nicht sein und zeigt, dass der wirtschaftliche Schaden, den die Mafia dieser mit Naturherrlichkeiten und Kulturdenkmälern gesegneten Insel zugefügt hat, bis heute fortwirkt. Man denke an die chronische, jüngst durch den Klimawandel verschärfte Trinkwasserkrise in Agrigent. In der Kulturhauptstadt 2025 ist das Wasser für die Hotels garantiert, für die Bürger jedoch rationiert.

Agnello Hornby lebt seit 1972 in London, verbringt jedoch jeden Sommer bei ihrer Schwester in Agrigent, einem der Schauplätze des Romans © Adolfo Frediani

Simonetta Agnello Hornby, Jahrgang 1945, hält ihrer Generation einen Spiegel vor, die aus dem Wunsch um Anerkennung in die Abhängigkeit der Cosa Nostra geriet und zu der baulichen Verschandelung und Rückständigkeit Siziliens beigetragen hat. Nie aber erhebt sie moralisch den Finger über ihre Landsleute, die Thema auch ihrer anderen literarischen Werke sind. Die aus altem palermitaner Adel stammende Autorin hat mit 20 Jahren gegen den Willen des Vaters ihrer Heimat verlassen, um in den USA und in England Jura zu studieren. Jahrelang als Anwältin von Opfern häuslicher Gewalt und als Jugendrichterin in London tätig, kennt sie Wert und Drama von Familienbindungen, die Fragilität von Heranwachsenden. Die unbezwingbare, positive Kraft der sizilianischen Familie, ja die Sehnsucht nach dem Land glücklicher Kindertage ist trotz aller Kritik an der sizilianischen Gesellschaft in vielen Beschreibungen spürbar. Gewidmet ist der Roman den Sizilianern, die geblieben sind und die mit ihrem Leben dafür zahlten, Schutzgeld an die Mafia verweigert zu haben wie der Unternehmer Libero Grassi.

Simonetta Agnello Hornby: Er war ein guter Junge, Roman, 261 S. Folio Verlag (Wien/Bozen). Aus dem Italienischen von Christine Ammann, erschienen am 21. Februar 2025