Ein winziges Dorf in Kalabrien richtet internationalen Friedhof für Migranten ein
Das Schild am Ortseingang von Tarsia hat freundliche Worte für Fremde: “Terra della pace e solidarietà” – Land des Friedens und der Solidarität. Tarsia ist ein 2000-Seelendorf im Norden von Kalabrien, in der Provinz von Cosenza. Die Stiefelspitze gilt als armer, von der Industrialisierung vergessener Hinterhof Italiens. Dass ausgerechnet diese Bürger, vornehmlich Bauern und Schafhirten, den ersten internationalen Friedhof für die im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge aufnehmen wollen, erstaunt jedoch nur im ersten Moment.
“Menschlichkeit und Solidarität liegen sozusagen in unseren Genen», sagt der junge Bürgermeister Roberto Ameruso nicht ohne Stolz am vergangenen Dienstag, als der Präsident der Region mit einer Delegation zu Besuch kam. Im zweiten Weltkrieg lag hier das größte italienische Internierungslager Ferramonti für Juden und Antifaschisten. Damals halfen die armen Bewohner der Malariaverseuchten Zone bei der Versorgung der Gefangenen, als es Lebensmittelengpässe gab. Und verstorbene Gefangene wurden solidarisch auf dem Dorffriedhof bestattet.
Die Tradition der Solidarität soll sich mit dem zukünftigen Friedhof fortsetzen. Als Gelände wählte man einen jahrhundertealten Olivenhain auf dem Hügel am Fuße des Ortes, gegenüber von dem alten Dorffriedhof. Von hier erstreckt sich der Blick in die wilde Berglandschaft bis hin zum künstlichen See im Flusstal. Ein Areal von 30.000qm sind in dem 4-Millionen-Euro-Projekt vorgesehen, es soll mindestens 2000 Bestattungen aufnehmen – mit der Möglichkeit der Erweiterung.
12000 Tote in 3 Jahren – Problem der Identifizierung
Das UN-Flüchtlingskommissariat (Unhcer) schätzt, dass seit 2014 mindestens 12.000 Migranten auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ihr Leben ließen. Seitdem die Balkanroute verriegelt wurde, ist Italien stärker denn je Anlaufstelle für die Schlepper an der nahegelegenen libyschen Küste. Allein 2016 betrug die Flüchtlingsrate in Italien über 180.000, für 2017 fürchtet man 200.000 Personen, die vor Krieg, Verfolgung und Hunger fliehen. Proportional dazu steigt auch die Rate derjenigen, die auf der Seeroute umkommen, weil sie verdursten oder weil ihr überladenes, seeuntüchtiges Boot kentert. Es sind vor allem Migranten aus Schwarzafrika, aus Eritrea, Somalia, Nigeria, vereinzelt auch aus Ägypten und Afghanistan. Nicht alle Leichname können geborgen werden, unzählige sind auf dem Meeresgrund für immer verschollen. Aber selbst die geborgenen Leichname können oft nicht identifiziert werden. Zwei Drittel der 2016 ertrunkenen Afrikaner konnten nicht einmal einem Herkunftsland sicher zugewiesen werden. Ihre Körper wurden bisher nur mit Nummern versehen und in Küstenorten auf verschiedenen Friedhöfen bestattet. So ist es für die Angehörigen schwierig, wenn nicht unmöglich, sie je wieder zu finden.
Würde zurückgeben
Auf die Wichtigkeit, den Toten eine würdige Bestattung zu geben, wies mehrfach Kurienkardinal Antonio Maria Vegliò hin. Der Präsident des päpstlichen Rates der Seelsorge für die Migranten und Menschen lobte letztes Jahr die – wenn auch verspätete – schwierige Bergung des vor Libyen gesunkenen Flüchtlingsbootes als eine Geste “großer Menschlichkeit und christlicher Pietät”. Die Bergung der 700 im Rumpf eingeschlossenen Leichname hatte die italienische Staatsanwaltschaft zunächst aus Kostengründen abgelehnt.
Die Idee, den vor den italienischen Küsten geborgenen Toten eine gemeinsame Ruhestätte zu geben, geht auf den 60jährige Kalabresen Franco Corbelli zurück. Seit drei Jahren kämpft der Menschenrechtsaktivist und Journalist für ihre Realisierung. Einen Verbündeten fand er in dem Bürgermeister von Tarsia, der wiederum mithilfe des Präsidenten der Region die nötigen Gelder dafür beschaffen konnte. “So haben die Angehörigen wenigsten einen Anlaufort, an dem sie eine Blume niederlegen oder ein Gebet sprechen könnten”, erklärt Corbelli. Zudem würde es dies auch einfacher machen, auf Anfrage später einmal DNA-Proben der Opfer zu nehmen.
Aus Kalabrien Vorbild für christliche Nächstenliebe und Integration
Italien hat dahingehend einen wichtigen Schritt getan – und dies gleich nach der Tragödie von Lampedusa im Jahr 2013, bei der fast 366 Menschen wenige Meter vor der Insel ertranken, und ohne Unterstützung der Europäischen Union. Im Labor Labanof am Institut für Rechtsmedizin der Universität Mailand werden so genannte Post-Mortem-Daten von Opfern ausgewertet wie die DNA, zudem werden „Ante-Mortem-Daten“ erfasst, persönliche Gegenstände einer Person, die sie auf sich trug, etwa Fotos, oder auch charakteristische Körpermerkmale wie Narben oder Tätowierungen. Die Daten werden dann abgeglichen, um die Identität einer Person zu eruieren. Seit 2013 gibt es einen außerordentlichen Kommissar für verschwundene Personen.
Sofern das Herkunftsland oder die Religion des Toten bestimmt werden können, soll dieser entsprechend seinen Riten beigesetzt werden, so der Bürgermeister Ameruso. Vorgesehen ist die Kooperation mit den verschiedenen afrikanischen Gemeinden in Italien. “Der Friedhof der Migranten wird ein Beispiel für Integration auch nach dem Tod sein, denn er liegt unmittelbar bei unseren Toten. Das ist eine klare Botschaft von Zivilisation, Frieden und Hoffnung, die von Tarsia ausgeht, in einem historisch schwierigen Moment mit der weltweit zunehmenden Bedrohung durch den Terrorismus.”
Die Geste will auch als vorbildlich verstanden werden im Hinblick auf die aktuelle Diskriminierung der Nichtregierungsorganisationen, die Flüchtlinge auf dem offenen Meer retten. So warf die populistische Fünfsternebewegung ihnen vor, Hand in Hand mit libyschen Schleppern zu arbeiten und dadurch den Zustrom aus Afrika noch zu verstärken. In Italien, wie auch in Deutschland, ist eine heftige Diskussion um die Aufnahmekapazitäten von Flüchtlingen im Gang.
Warten auf den Papst
Wenn die Bürokratie keine weiteren Hürden legt, kann der Friedhof im Frühherbst eingeweiht werden. Der Gründer Corbelli will dazu Papst Franziskus einladen, vielleicht am vierten Jahrestag des Unglücks von Lampedusa, am 3. Oktober. Seine erste Reise überhaupt als Papst führte Franziskus auf die Insel vor Sizilien, die so viele gestrandete Leichname gesehen hat. Dort warf er am 8. Juli 2013 einen Blumenkranz ins Mittelmeer, um an die Tausenden von Bootsflüchtlingen zu erinnern, die auf der Überfahrt nach Europa anstatt Hoffnung auf ein besseres Leben den Tod fanden. Seine damalige Predigt begann mit dem eindringlichen Aufruf “Adam, wo ist Dein Bruder”.
Einem kleinen Mit-Bruder wird der Migranten-Friedhof gewidmet, dem Syrer Aylan Kurdi. Der Leichnam des dreijährigen Jungen wurde am 2. September 2015 an der türkischen Küste in der Nähe Bodrums angespült. Das Foto des wie ein Bootswrack gestrandeten Körpers – das Kind lag auf dem Bauch ausgestreckt im nassen Sand – erregte damals weltweites Mitgefühl und wurde zum Symbol der Flüchtlingstragödie schlechthin.