Morgens Gladiatorenkämpfe, abends Tosca. Der italienische Kulturminister hat Großes vor mit dem römischen Amphitheater, dessen Arena nun einen 18,5 Millionen teuren High-Tech-Boden bekommt. Über die Nachhaltigkeit der Attraktion scheiden sich allerdings die Geister
(TAZ 29. Mai 2021) Von oben betrachtet gleicht das Kolosseum einem Backenzahn, in dessen trichterartigen Schlund sich dunkle Karies gefressen hat. Zu einer Ruine geklopft haben es Volk und bauwütige Päpste, die sich in dem größten Amphitheater des Altertums über Jahrhunderte mit Steinmaterial versorgten. Ursprünglich hatte es weiße Sitzstufen und einen hölzernen Arenaboden, der mit Sand ausgestreut war.
Da der Boden fehlt, blickt der Besucher heute in den Maschinenraum der Unterkellerung: auf ein unterirdisches Labyrinth aus Korridoren, finsteren Kammern und Schächten, wo einst Gladiatoren und ausgehungerte Bestien darauf warteten, per Fahrstuhl in das gleißende Sonnenlicht der Kampfarena gehievt zu werden. Auf wilde Löwen wird man wohl verzichten, aber bald schon könnten in der ehemaligen Spielstätte von panem et circensis wieder Spektakel stattfinden.
Minister will live-Emotionen
Das Zentrum der antiken Massenunterhaltung nach 1500 Jahren wieder zum Leben zu erwecken, ist ein ausdrücklicher Wunsch von Kulturminister Dario Franceschini. Die Unterkellerung, Hypogäum genannt, soll bis 2023 mit einem beweglichen, 76 x 44 Meter großen High-Tech-Boden verschlossen werden. Das Ingenieursbüro Milan Ingegneria, Gewinner der Ausschreibung vom vergangenen Dezember, hat einen Boden aus Karbonleisten auf einem Stahlrahmen entworfen. Die mit wetterfestem Holz verkleideten Leisten sind wie Jalousielamellen drehbar, um den Keller belüften zu können. Damit nicht genug, werden auch Teile der ausgeklügelten Bühnentechnik mit ihren Käfigen und Lastenaufzüge rekonstruiert. Der Tourist soll in Zukunft nicht nur die Arena wie ein antiker Gladiator betreten, er soll sich auch den stickig-schummrigen Arbeitsort der etwa zweihundert Sklaven besser vorstellen, die auf gebrüllte Befehle von einer Winde zu anderen hetzten. Er soll sehen, wo die zum Tode Verurteilten ihre letzten Minuten verbrachten, wie riesige Bühnenkulissen hochgezogen wurden und er soll den Überraschungseffekt einer plötzlich aufgehenden Falltür erleben. Die Antike als Netflix-Melodram. Der bildfixierte Besucher will nicht mehr vor Schautafeln stehen. Er will Emotionen und Selfies.
Warum die Ruine einbalsamieren?
Seit jeher schielen die Stadtväter neidisch auf die Arena von Verona, die der Stadt Popularität und Geldsegen einträgt. Bisher scheiterte in Rom eine entsprechende Rekonstruktion am grünen Licht der mächtigen Soprintendenz, die in Italien über die Kulturgüter wacht. Sie bangte um die antike Bausubstanz, abgesehen von der diffusen Abneigung der Fachwelt gegen eine Zweckentfremdung des Monuments. Mit Franceschini und seiner 2014 initiierten Kulturreform änderte sich das akademische Klima jedoch schlagartig. Zeigte doch das Erfolgsmodell Pompeji, dass die Vermarktungsstrategien des Ministers Früchte tragen und dass Massen- und Qualitätstourismus kein Widerspruch sind. Einen Mitstreiter fand der Sozialdemokrat in Daniele Manacorda, Archäologie-Professor an der Roma Tre. Dieser provozierte die „konservativen“ Fachkollegen mit dem Vorschlag, die Arena wieder begehbar zu machen, wie sie auf alten Alinari-Fotos aus dem 19. Jahrhundert zu sehen ist. Zwar existierte der Holzboden schon damals nicht mehr, aber die sechs Meter tiefe Unterkellerung war mit Erde aufgefüllt. Einst trug die Arena Altäre und Kapellen der Kreuzwegstationen, war Verehrungsstätte der Märtyrer, im Mittelalter diente der ganze Bau gar als Festung. Warum sollte das Kolosseum heute nur totes Museum sein?
Rekonstruktionen sind unüblich
Rekonstruktionen gehören eigentlich der Vergangenheit an, da sie im Kontrast zur modernen Restaurierungslehre stehen. Um dem Besucher zu veranschaulichen, wie eine Ruine ursprünglich aussah, werden heute Lasershows eingesetzt wie im benachbarten Circus Maximus. Der Arenanachbau stellt also ein Unikum dar. Die Ingenieure beteuern, dass modernste Technologie den Eingriff wenig invasiv machen würde. Heinz Beste vom Deutschen Archäologischen Institut in Rom hat zumindest hinsichtlich der Statik keine Bedenken: «Sie wurde bei der Bauaufnahme 1999 geprüft. Der neue Boden kann tatsächlich von den Strukturen aus der Zeit des Kaisers Domitian (81-96 n. Chr.) getragen werden – wie der antike». Alfonsina Russo, seit 2017 Direktorin des Kolosseums, begrüßt – anders als ihre Vorgängerin – das Projekt aus konservatorischem Interesse. „Ein Boden wird die frisch restaurierten Mauern des Hypogäums vor Regen und Sonne schützen.“ Und Franceschini beteuert, „der Holzboden sei komplett reversibel und green“, das „Regenwasser würde für die Klosettspülung drainiert“. Letzteres zumindest scheint ein gewaltiger Fortschritt, denn bisher gab es für die 7,5 Millionen Besucher jährlich (2019) nur Dixi-Klo ähnliche Aborte.
Wohin mit den Zuschauern?
Doch ein zentrales Problem kann selbst High-Tech nicht lösen. Der fragmentarische Zustand der Substruktionen der Tribüne erlaubt kein Montieren von neuen Sitzstufen wie in Verona. Zuschauer müssen zwangsläufig in der Arena sitzen – also ebenerdig. Damit sind nicht nur Akustik und Erlebnis geschmälert, sondern auch der Anzahl der Zuschauer Grenzen gesetzt. Von den Großveranstaltungen in der Kaiserzeit, als sich bis zu 75.000 Menschen auf den fünf steilen Sitzrängen drängten, können die Veranstalter heute nur träumen. Kleine Theaterstücke und Konzerte wurden bereits experimentiert, und zwar auf dem Segment Arenaboden, das man für das Pilgerjubiläum 2000 errichtet hatte. Paul McCartney gab hier ein Benefizkonzert vor 400 Sponsoren, während sich die plebejischen Fans mit einer Bildschirmübertragung draußen vor dem Amphitheater begnügten. Einen exklusiven Charakter werden auch zukünftige Aufführungen haben.
Auf die Art der zukünftigen Darbietungen, ob Gladiatorenzirkus, Pop oder Klassik, will sich Franceschini nicht festlegen. Doch verspricht er «höchstes Niveau». Opernkenner krausen die Nase. Lyrische Abende beschränken sich doch eher auf ein atmosphärisches Erlebnis, die Akustik sei zu schlecht. Davon abgesehen hat die römische Oper mit ihrer Sommerbühne in den antiken Caracalla-Thermen bereits eine stimmungsvolle Kulisse.
Kein Geld für Denkmalpflege
Keine Frage, das Projekt gefällt der Öffentlichkeit. Dennoch sind Sinn und Nutzen des kostspieligen Arenanachbaus überaus fragwürdig. Für den illustren Kunsthistoriker Tomaso Montanari erfüllt es «nicht einen Aspekt von Nachhaltigkeit, sondern lädt zum Konsumieren von Kunst ein». Es passt nicht in das neue Konzept des sanften, reflektierten Tourismus, sondern setzt auf alte Strategien: auf Massentourismus und eine populistische, gleichzeitig auch elitäre Kulturvermittlung.
Die Kosten – fast 20 Millionen für Entwicklung und Bau – könnte zu einem Politikum werden, da die Nachwehen der Pandemie in der Kultur- und Reisebranche am längsten anhalten werden. Mit über 50 Millionen Euro Einnahmen jährlich (2019) war das Kolosseum Kassenschlager unter den zwanzig autonomen Kunststätten, die als Motor des italienischen Kulturbetriebes fungierten. Nun sind die Einnahmen massiv eingebrochen, der Erhalt der Kulturgüter muss allein vom hochverschuldeten Staat getragen werden. Bereits vor Covid-19 waren die Ressourcen für die Denkmalpflege verknappt. In Rom verfällt die antike Stadtmauer und in Mittelitalien regnet es in die vom Erdbeben beschädigten mittelalterlichen Kirchen. «Die Pflege der Kulturschätze erfolgt nach einer Notfalllogik anstatt nach einer programmierten Wartung und Instandsetzung», stellt der Rechnungshof im letzten Bericht fest. Vor diesem Hintergrund fragt man sich mit Salvatore Settis, dem wohl stärksten Kritiker der Franceschini-Reform, «welche Priorität der Arenanachbau habe». Vielleicht hätte es eine virtuelle Multimedia-Rekonstruktion auch getan.