Staatspräsident Napolitano befürwortet Einbürgerung der Kinder von Immigranten
„Es ist absurd, den in Italien geborenen Kindern von Immigranten die Staatsangehörigkeit zu verweigern. Damit wird ihnen ein Grundrecht aberkannt.“
Mit dieser spontanen Äußerung überraschte Staatspräsident Giorgio Napolitano letzten Dienstag bei einem offiziellen Empfang im Quirinal. Diese richtete sich eindeutig gegen die eben ausgeschiedene Berlusconi-Regierung, die noch über die Mehrheit in den beiden Kammern verfügt. Der Koalitionspartner, die Lega Nord, hat sich von jeher strikt gegen die Einbürgerung von Immigranten ausgesprochen.
Solche Statements aus dem Munde eines Staatspräsidenten, dem zur Neutralität verpflichteten Hüter der demokratischen Ordnung, würde in jedem anderen EU-Staat als „Einmischung“ aufgefasst werden. In Italien jedoch genießt das höchste Amt im Staat immer schon eine besondere Autorität und Eigenständigkeit gegenüber dem Parlament. Das mag mit der historischen Instabilität der Regierungen zusammen hängen, die einen starken Repräsentanten und Schiedsrichter des Landes nötig macht.
Dass der sonst sehr bedachte und zurückhaltenden Napolitano sich plötzlich zu einer persönliche Meinungsäußerung hinreißen ließ, dazu noch zu einem brisanten Thema wie Ausländerpolitik, ist zweifellos auf das neue politische Klima in Italien zurückzuführen. Mit dem parteilosen Technokraten-Kabinett von Mario Monti ist auch die für die Berlusconi-Ära typische populistische wie aggressive Dialektik, die die Debatten zwischen den politischen Lagern bestimmt hat, weggeblasen oder zumindest vorübergehend abgestellt. Alle Medien standen in den letzten drei Jahren zunehmend im Bann des von Regierungsparteien und Opposition geführten Kampfes, der das Land in zwei Teile gespaltet hat: in pro und kontra Berlusconi. Erst mit dem Rücktritt des umstrittenen Premierminister haben sich die Gemüter beruhigt und es scheinen sachliche Diskussionen überhaupt wieder möglich.
Dadurch, dass die Scheinwerfer nicht mehr permanent auf die Skandale des Medienmoguls und seiner Minister gerichtet sind, ist auch wieder Raum für andere Themen frei geworden. Integrationspolitik und die Frage des zukünftigen Rechtsstatus der in Italien geborenen und aufgewachsenen Kinder von Gastarbeiterfamilien waren in den letzten Jahren ins Hinterstübchen gerückt. Dabei ist Italien mit seinen 4,6 Millionen Ausländer längst eine multikulturelle Gesellschaft. Der Ausländeranteil beträgt 7,5% der Bevölkerung. Rund 600.000 davon sind Kinder, die in Italien geboren sind und die nach der Auffassung des Staatspräsidenten einen Anspruch auf die italienische Staatsangehörigkeit haben. Wenn Napolitano die politischen Kräfte dazu auffordert, „die Frage vor dem Hintergrund einer veraltenden und erstarrten Gesellschaft zu betrachten, die dringend neuer Energien bedarf“, dann tut er das mit einem Blick auf die demographische Entwicklung des Landes. Denn diese rückt Italien – zusammen mit der BRD – an die erste Stelle in der EU, was Veralterungstendenz der Bevölkerung betrifft.
Durch anhaltenden Immigrationsfluss und vor allem aufgrund der stärkeren Geburtenrate unter Einwanderern wird der Ausländeranteil weiter zunehmen. Das staatliche Statistikamt (Istat) prognostiziert für 2065 ein Viertel der Bewohner mit Immigrationshintergrund. Italien wird also nicht umhin können, den zukünftigen Einwanderergenerationen politische und soziale Gleichstellung zu bewilligen. Die jüngsten Umfragen belegen erstaunlicherweise, dass das für die Mehrheit der einheimischen Bevölkerung im Grunde kein Thema ist: Schon heute befürworten 71% der Italiener die Staatsbürgerschaft von im Lande geborenen Gastarbeiterkinder, 81% sogar sprechen sich für die Erteilung des kommunalen Wahlrechts an alle gemeldeten Ausländer aus (Daten CISE). Damit hat Napolitano also nur eine klare Meinungstendenz des Landes ausgedrückt, die bisher im Lärmpegel der ausländerfeindlichen und etnonationalistischen Parolen der Lega Nord untergingen.
Die meisten Immigranten leben in dem dicht besiedelten und industrialisierten Norditalien (60%), wo sie häufig unqualifizierte Arbeit zu Konditionen verrichten, die heute von den Einheimischen abgelehnt werden. So liegt mittlerweile die Milchwirtschaft in den Händen von Indern, in der Landwirtschaft sind die kräftigen, hoch gewachsenen Afrikaner gefragt, Philippinen und Südamerikaner als Haushaltshilfe und Babysitter. In der Altenpflege hingegen werden rüstige Frauen aus Moldawien, Ukraine und Rumänien bevorzugt. Im letzten Jahrzehnt sattelte die Gastronomie komplett um auf ausländisches Personal. In den Großstädten sieht man kaum noch Lokale, die nicht einen marokkanischen Pizzabäcker, Koch oder asiatische Küchenhilfen aufweisen.
Selbst wenn die italienische Wirtschaft heute nicht mehr auf diese fremden Arbeitskräfte verzichten könnte und das Nebeneinander von verschiedenen Nationalitäten im Alltag eine Realität geworden ist, so kann von einer entsprechenden Integration derselben nicht die Rede sein. Man könnte den Stand mit dem der frühen 80ziger Jahre in Deutschland vergleichen. Das Problem betrifft weniger die circa eine Million Rumänen, für die sprachlichen und kulturellen Barrieren leichter zu überwinden sind. Jedoch sind Immigranten von dunklerer Hautfarbe wie Araber, Afrikaner, Pakistaner, aber auch Chinesen an den sozialen Rand gedrängt. Sie leben meistens isoliert in Ghettos, sind Diskriminierung ausgesetzt und stehen Ausbeutung am Arbeitsplatz ungeschützt gegenüber.
Daraus auf einen in der Landesmentalität verwurzelten Rassismus zu schließen, ist sicherlich falsch. Vielmehr mögen die Schwierigkeiten der Integration in der Dynamik der Immigrationswelle in Italien zu suchen sein. Italien ist ein junges Einwanderungsland: sie setzte erst in den 80ziger Jahren mit dem Wirtschaftsboom ein, zunächst nur sehr zaghaft, um dann in den letzten 15 Jahren zu einem regelrechten Phänomen zu werden. Seit 2005 hat sich die Zahl der Rumänen vervierfacht, die der Chinesen, Ukrainer, Pakistaner mehr als verdoppelt. Zum anderen erschwert der Mangel an einer ordentlichen Sozialgesetzgebung zum Schutze von Arbeitslosen und Armen die Voraussetzung für eine Aufnahme von Fremden im eigenen Land. Diese nehmen auf der sozialen Leiter die letzte Sprosse ein. Die Straßen in den Städten sind voll mit ambulanten Händlern aus Schwarzafrika und Bangladesch, die meisten Obdachlosen sind gestrandete Immigranten. Ein anderes gravierendes Problem ist die kursierende Schwarzarbeit, die sich mit der Krise noch verstärkt hat. Durch das Heer von opferbereiten Arbeitsuchenden hat sie bei den schwach ausgeprägten staatlichen Kontrollen ein leichtes Spiel.
Staatlich subventionierte Integrationsprojekte in Kindergärten und Schulen sind im größeren Umfang erst nach 2000 in Gang gekommen, also sehr spät. Kürzungen im Bildungsbereich und die Verschuldung der Kommunen während der letzten Berlusconi-Regierung hat die meisten Projekte einschlafen lassen. Integrationspolitik war auch nie eine Priorität jener Regierung. Vielmehr darf man das Erstarken der xenophoben Lega Nord, die über 10% der Stimmen bei den Wahlen 2008 erkämpfte, als Barometer für eine gescheiterte Integrationspolitik in Italien betrachtet werden.
Auch wenn mit der neuen Monti-Regierung demnächst sicherlich keine Gelder fließen werden – Italien riskiert immer noch die Staatspleite – so zeigte sie bereits bei der erstmaligen Einrichtung eines Ministeriums für Integration (ohne Portfolio), dass sie dem Thema ein neues Gewicht geben möchten. In diesem Zusammenhang wäre die Einbürgerung der in Italien aufgewachsenen zweiten Immigrantengeneration sicherlich ein wichtiges Signal.
Eine entsprechende Gesetzesänderung zum Staatsbürgerschaftsrecht müsste im Parlament verabschiedet werden. In Italien wird das vorherrschende ius sanguinis besonders streng ausgelegt. Eine komplette Umstellung auf das in Frankreich adaptierte ius soli, das heißt, die automatische Vergabe der Staatsangehörigkeit durch die bloße Geburt im Lande, ist nicht unbedingt nötig. Es genügt eine Lockerung des ius sanguinis nach dem deutschen Optionsmodell, dass seit dem Jahr 2000 allen im Inland geborenen Gastarbeiterkindern die deutsche Staatsangehörigkeit anbietet (ein Elternteil muss mindestens acht Jahre in der BRD gearbeitet haben). Roberto Maroni, ehemaliger Innenminister und Parteikoordinator der Lega, hat gedroht, der Monti-Regierung die Gefolgschaft zu entziehen, sollte das Gesetz verabschiedet werden. Aber Andrea Riccardi, frisch ernannter Minister für Integration, hält unbeirrt an der neuen Linie fest: „Diese Kinder sind Teil unserer Zukunft!“
„Die Italiener sollten nicht vergessen, dass sie selbst vor gar nicht so langer Zeit aus wirtschaftlicher Not ihr Glück in der Ferne suchen mussten, gemahnt Staatspräsident Napolitano abschließend.
Tatsächlich war Italien einmal eines der größten Emigrationsnationen. Zwischen 1870 und 1970 hat die Armut des damals industriell unterentwickelten Landes rund 24 Millionen Bürger gezwungen, die Heimat zu verlassen. Dass gerade aus dem Veneto, in dem die Lega Nord ihre Hauptwählerschaft rekrutiert, noch bis in die späten 60ziger Jahre Scharen von Vätern auswandern mussten, um ihre Familien als Pizzabäcker, Barbiere oder Handwerker zu ernähren, scheint von den Parteigenossen wohlweislich verdrängt. Die Erfahrung wegen einer anderen Sprache und Kultur abgelehnt oder verspottet zu werden, man denke nur an das in Deutschland übliche Schimpfwort „Spaghettifresser“, hatte die Großelterngeneration am eigenen Leibe gemacht. Aber auch das scheint in der Region, die sich zum führenden Textilzentrum Europas hochgedient hat und heute die zweitreichste Region Italiens ist, aus dem Bewusstsein gestrichen.