Ein Pamphlet von Jesuitenpater Bartolomeo Sorge über die katholische Kirche in Italien
„Das Evangelium verlangt mehr Prophetie. Hoffen wir, dass das Jahr des Glaubens die unvollendet gebliebenen Reformen wieder aufnimmt.“
Diese kritische Bestandsaufnahme zum 50. Jahrestag des Zweiten Vatikanischen Konzils kommt aus dem Munde eines Jesuiten, sozusagen aus dem Inneren der Kirche. Pater Bartolomeo Sorge spricht vielen engagierten italienischen Katholiken aus dem Herzen. Das zeigen die enthusiastischen Leserkommentare zu seinem Artikel, der vergangene Woche in der Zeitschrift Famiglia Cristiana erschienen ist.
„Der heutige Stillstand ist vor allem auf die fehlende Umsetzung von Kollegialität, der wichtigsten Forderung des Konzils, zurückzuführen. In der Kirche fehlt ein echter Dialog: der Bischöfe mit der Römischen Kurie, der lokalen Gemeinden mit ihren Pastoren und allgemeiner der Hierarchie mit den gläubigen Laien. Es wird immer noch alles von oben entschieden.“
Wachsendes Schweigen und Desinteresse der Gläubigen seien die Folgen. Es würde nicht mehr miteinander gesprochen. „Die Kirche bedarf heute stärker als früher des offenen und ehrlichen Dialogs, getragen von gegenseitiger Liebe und Wertschätzung. Die Neuevangelisierung sollte eher auf das Urteilsvermögen der Gemeinschaft zielen als auf neue Regierungsstrukturen der Kurie. Es braucht Zeugen, reife und verantwortungsbewusste Laien.“
„Die Kirche des Konzils ist eine freie Kirche“
Der Jesuit sieht die Verquickung von kirchlicher und staatlicher Macht als großes Übel. Die kirchliche Macht würde ihre Interessen über diplomatische Kanäle (der Vatikan unterhält diplomatische Beziehungen mit 179 Staaten A.d.R.) und Konkordaten geltend machen. „Das Evangelium verlangt Prophetie und nicht Diplomatie. Die Stärke der Kirche besteht in dem Wort Gottes, in der Heiligkeit ihrer Gläubigen, in der Liebe zu den Armen, und nicht in der Bevorzugung der Reichen und jeweiligen Mächtigen oder im Schutz von starken Mächten. Die Kirche des Konzils ist eine freie Kirche.”
Diese Kritik richtet sich klar gegen die traditionelle Einflussnahme des Vatikans als Kirchenstaat auf bestimmte politische Entscheidungsprozesse der italienischen Regierungen. Katholische Laienverbände, Bischöfe und der Papst als Oberhaupt der Katholiken treten seit jeher offen für Werte der christlichen Ethik ein. Sie versuchen auf die öffentliche Meinungsbildung in Fragen wie Sterbehilfe, Abtreibung, Stammzellenforschung, eingetragene Lebenspartnerschaft usw. einzuwirken. Das geschieht auch in anderen Ländern und wird allgemein als Ausdruck der freien Meinungsäußerung und Religionsausübung verstanden. In Italien jedoch ist bekannt, dass der vatikanische Staatssekretär bei Krisensitzungen der Regierung neben den wichtigsten Parteivertretern anwesend zu sein pflegt, um über zukünftige Regierungsbildungen mit zu entscheiden. In der Tat hat es in Italien nie eine strikte Trennung von Staat und Kirche gegeben, ein Tatbestand, der in Politik und Gesellschaft nicht selten reklamiert wird. Er rührt natürlich daher, dass der Papst nicht nur die geistliche Führung der katholischen Glaubenswelt inne hat, sondern auch weltliches Oberhaupt eines Ministaates ist, mit dem Italien bilaterale Abkommen geschlossen hat. Der Vatikan hat den Vorwurf der verdeckten Einmischung stets zurückgewiesen. Ungewöhnlich ist daher, dass von einem bekannten jesuitischen Gelehrten die Methoden der politischen Diplomatie zur Durchsetzung von Kircheninteressen so freimütig angesprochen werden.
„Die Kirche des Konzils ist eine arme und prophetische Kirche“
Weltlicher Reichtum und Prunkvolle Liturgien und Zeremonien resultierten aus diesem Konflikt. Sie ständen im Gegensatz zu dem apostolischen Armutsgebot. Natürlich sei zum Zwecke der Evangelisierung der Gebrauch von Gütern unabdingbar, räumt der Pater ein. „Aber mit welcher Glaubwürdigkeit wird die Kirche der Welt die gute Botschaft Gottes überbringen, … wenn die kirchlichen Institutionen Banken unterhalten und in der Börse spekulieren? Wenn derjenige, der das Evangelium verkündet, in schlossähnlichen Palästen wohnt? Die Kirche des Konzils ist eine arme Kirche.“
„Mit welcher Kohärenz ruft die Kirche die Gläubigen zur Teilnahme an der Eucharistie auf, wenn sie anschließend das Angedenken an das letzte Abendmahl Christi mit pompösen Zeremonien, prächtiger Kleidung und Ornat verdunkelt? Die Kirche des Konzils ist eine prophetische Kirche.“
Konzilserlebnis löste geistigen Wandel in Jesuitenpater aus
Der Jesuit ist nicht nur Augenzeuge des Zweiten Vatikanums. Der damals frisch geweihte 33 jährige Priester wurde vom Orden als Berater und Beobachter entsandt. Verlauf und Nachwirkung des Konzils haben ihn ein Leben lang beschäftigt und waren Thema zahlreicher Studien und Publikationen. Der gebürtige Toskaner trat mit 17 Jahren (1946) dem Jesuitenorden bei und behauptet von sich selbst, ganz von der alten tridentinischen Schule geprägt gewesen zu sein. Erst das Konzilserlebnis hätte bei ihm einen Wandel ausgelöst und zum Studium der katholischen Soziallehre und der Rolle der Laien in der Kirche angeregt. Der Dialog mit den Gläubigen und die Frage nach Rolle der Kirche in der Politik standen stets im Vordergrund seines Wirkens. Er leitete abwechselnd die Redaktionen der bekannten Monatszeitschriften seines Ordens, Civiltà Cattolica (1973-1985), Popoli (1999-2005) und seit 1997 Aggiornamenti Sociali. 1986 gründete er in Palermo das Jesuiteninstitut für Sozialstudien und Politische Bildung Pedro Arrupe, wo er heute noch lehrt. Mit dem kürzlich verstorbenen Ordensbruder Kardinal Martini verband ihn eine tiefe Freundschaft und die Dialogbereitschaft mit anderen Religionen und Nichtgläubigen.
Kritik an das Innere der Kirche gerichtet
Der Artikel des Jesuiten liest sich wie ein Pamphlet, eine Provokation, die an das Innere der Kirche gerichtete zu sein scheint. In einem nur wenige Tage zuvor geführten Interview (aostaoggi.it) gibt Pater Bartolomeo Sorge ein differenzierteres Bild von seiner Sichtweise des Konzils und der heutigen Situation wieder. Darin hebt er auch die Leistungen der Kirche seit dem Konzil hervor. Außerdem begründet er ausführlich sein Urteil über den angeblichen Stillstand der Reform.
„In den letzten Jahrzehnten hat die Kirche ihr Augenmerk hauptsächlich auf ihr äußeres Verhältnis zur Welt gerichtet: auf die Neuevangelisierung, auf die Beziehung zu den Staaten, auf den interkulturellen und interreligiösen Dialog, auf die durch den technologischen und medizinischen Fortschritt gestellten ethischen Probleme, auf die Probleme von Gerechtigkeit, Frieden und Hunger in der Welt. Die Anstrengungen zu einer inneren Reform der Kirche hingegen erscheinen sehr viel langsamer und schwächer ausgebildet. In diesem Punkt herrscht heute eher Stillstand, wenn nicht sogar ein Klima des Rückschritts.“
Den Grund dafür sieht der Jesuit darin, dass in der Kirche zu viele noch in überholten Kategorien des alten Christentums denken und sich nicht damit abfinden wollen, dass der heutige Alltag der Menschen nicht mehr von den Feiertagen, christlichen Gesetzen und vom Gemeindeleben bestimmt ist. „Die Kirche muss der Globalisierung und kulturellen wie religiösen Vielfalt auf neue Art begegnen, um als geistiges, soziales und kulturelles Ferment zu wirken.“
Klerikalismus muss überwunden werden
Der Pater sieht in der „vollständigen Erfüllung des Konzilsgeistes“ die Lösung. Dazu gehöre die Überwindung jeder Form von Klerikalismus. „Die Hierarchie steht nicht über dem Volk Gottes, sondern befindet sich in seinem Inneren. Die Autorität der Kirche ist nicht Bürokratie und Verwaltung, sondern Dienst und Zeugnis. Und die gläubigen Laien sind weder verhinderte Priester, noch Christen zweiter Klasse, vielmehr aktive Mitglieder des Gottesvolkes auf der Wanderung durch die Geschichte.“ Nur ein reifer Glaube könne zu einem spirituellen Aufschwung führen, den die Kirche dringend benötigt, um die innere Erneuerung zu Ende zu führen.
„Es herrschen schwierige Zeiten für die Kirche. Aber das ist nicht neu. Jedes Mal, wenn die Kirche reich und mächtig wird, gedrückt durch die Last von Ehrungen und Privilegien, jedes Mal, wenn die Diplomatie die Prophetie verdunkelt, schreitet der Heilige Geist ein, erneuert und reinigt sie. Aus dem Grunde hat er uns damals das Geschenk des Zweiten Vatikanums gemacht. Wir dürfen daher den vor 50 Jahren begonnenen Weg nicht unterbrechen.“
Obwohl der zu beschreitende Weg noch lang ist, bleibt Bartolomeo Sorge optimistisch. Neue Hoffnung sieht er vor allem durch das vom Papst proklamierte Jahr des Glaubens. „Die Kirche sind wir Sünder, die wir nach stetiger Erneuerung verlangen. Die Kirche ist jedoch in Christus gegründet, sie ist daher ewig heilig und die Mutter aller Heiligen. Deswegen sind wir zuversichtlich, dass der Weg fortgesetzt wird.“